Als der Ölhandel nach dem Wochenende wieder beginnt, ist plötzlich die Angst da. Die Angst, was es für die Welt bedeutet, wenn einer ihrer zentralen Rohstoffe auf einmal viel teurer wird. Zu Handelsbeginn Montagnacht schießt der Preis für ein Barrel (Fass) der Nordseesorte Brent binnen Sekunden 20 Prozent nach oben. In der Spitze auf fast 72 Dollar je Fass. Am Freitagabend, als die Händler ihre Büros verließen, hatte die gleiche Menge noch etwa 60 Dollar gekostet. "So etwas gab es noch nie", sagt der Analyst Eugen Weinberg von der Commerzbank.
Die Attacken auf eine Raffinerieanlage und ein Ölfeld in Saudi-Arabien bringen das fragile Gleichgewicht des Markts ins Wanken. Die Preiskurve zeichnet diese Nervosität wie ein Seismograf nach. Die Sorge etwa, ob Ölmangel die Produktion von Unternehmen behindert. Die Sorge, ob der Preisschock die Weltwirtschaft endgültig in eine Rezession reißt. Die Sorge, ob Verbraucher für Sprit und Heizöl bald astronomische Beträge zahlen müssen. Viele Ängste kumulieren da in einer einzigen Kurve.
Nach den Anschlägen vom Samstag ließen sich auf Satellitenbildern 16 Riesentanker beobachten, die vor den saudischen Häfen Ras Tanura und Juaymah warten mussten. Auch das verstärkte die Sorgen: Haben die Saudis noch genug Öl, um die Schiffe zu beladen?
Zwölf Millionen Barrel produzierte das Land - bisher
Was im Königreich passiert, reicht in seiner Bedeutung weit über das Wüstenland oder den Nahen Osten hinaus. Es erreicht die Adern der Weltwirtschaft. Saudi-Arabien ist einer der wichtigsten Ölexporteure auf dem Globus, zwölf Prozent der globalen Förderung kommen von dort. Zwölf Millionen Barrel produziert das Königreich Tag für Tag. Man muss nach den Angriffen auf die zwei größten Ölanlagen des Landes sagen: produzierte.
Nach eigenen Aussagen der Saudis haben die Angriffe auf Khurais und Abqaiq die Produktion halbiert. "Abqaiq ist das Herz des Systems, und es hatte gerade eine Attacke", sagt Roger Diwan vom Beratungsunternehmen IHS Markit.
"Wenn plötzlich die Hälfte der saudi-arabischen Ölproduktion lahmgelegt wird, ist das ein Einschlag", sagt Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). Auch das noch, könnte man sagen. Denn die deutsche Wirtschaft steckte schon vor den Drohnen-Angriffen in Saudi-Arabien mitten im Abschwung. Nach 1,5 Prozent 2018 wird sie dieses Jahr nur noch ein knappes halbes Prozent wachsen, so erwarten es Kooths und andere Ökonomen.
Fällt der Preis des begehrten Rohstoffs ein Jahr lang um sieben Dollar höher aus, so wirkt sich das spürbar aus, rechnet die Commerzbank vor. Die Ölkosten der Bundesrepublik Deutschland stiegen dann um etwa fünf Milliarden Euro. Das wäre 0,2 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung - rechnerisch die Hälfte des in diesem Jahr ohnehin schwachen Wachstums hierzulande. Sollte sich der Rohstoff längere Zeit um zehn Dollar verteuern, erwarten manche Ökonomen sogar, dass die deutsche Wirtschaft schrumpft.
Doch wie wahrscheinlich ist ein längerer starker Preisanstieg? "Wenn es bei dem einmaligen Anschlag bleibt, wäre das ein Sturm im Wasserglas", sagt Kooths, der beim IfW das Prognosezentrum leitet. Wie stark die Weltwirtschaft getroffen wird, hängt davon ab, wie schnell das Königreich seine Anlagen wieder zum Laufen bekommt - am Montag sollte ein Drittel der Ausfälle bereits wieder ausgeglichen werden. Helfen können aber auch andere.
Die USA haben "sehr viel Öl", schrieb etwa Präsident Donald Trump in Großbuchstaben auf Twitter. In der Tat: Die strategische Reserve der Vereinigten Staaten von 645 Millionen Barrel ist einsatzbereit. Trumps Twitter-Äußerung zeigte sofort Wirkung. Der Ölpreis fiel von 72 auf 68 Dollar - und blieb die meiste Zeit des Tages deutlich unter 70 Dollar. Und die USA sind nicht das einzige Land mit Vorräten. Auch andere Regierungen halten strategische Reserven, ebenso Ölkonzerne. Die Saudis selbst haben fast 200 Millionen Barrel als Notvorrat in Lagern geparkt. Zusätzlich könnten manche Länder des Ölkartells Opec dem Boden nun mehr Öl abtrotzen, vor allem Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland, das sich mit dem Kartell abstimmt.
Generell erscheint das Angebot an Öl eher groß. Die Welt ist weniger auf die arabischen Ölproduzenten angewiesen als früher, gerade weil die Vereinigten Staaten inzwischen so viel fördern. Wenn nichts mehr passiert, hält es Stefan Kooths deshalb für unwahrscheinlich, dass der Preis dauerhaft hoch bleibt. "Die Anbieter haben kein Interesse an dauerhaft höheren Preisen, weil sonst Öl schneller durch erneuerbare Energien ersetzt wird."
Auch Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer gibt sich derzeit entspannt, was die Folgen für die Weltwirtschaft angeht. "Der Handelskrieg zwischen den USA und China stellt das viel größere Risiko dar." Krämer glaubt nicht an ein rasches Ende des Handelskonflikts - die USA als etablierte Wirtschaftsmacht Nummer eins wollten den Aufstieg Chinas grundsätzlich verhindern. Am Montag kündigte der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang an, es werde für sein Land sehr schwer, ein Wachstum von sechs Prozent und mehr beizubehalten.
"Niemand wird am Ölmarkt leer ausgehen", sagt auch Rohstoffexperte Eugen Weinberg. Zumindest nicht, wenn die Probleme in den Anlagen nur zwei oder drei Wochen anhielten. Weinberg atmet tief durch. "Danach wird es gefährlich", sagt er.
Es gibt allerdings ein weiteres Problem, selbst wenn die saudische Produktion bald wieder ins Laufen kommt. Der Drohnen-Angriff hat der Welt vor Augen geführt, wie verwundbar das Herz der Ölindustrie ist. Wie aus einem vermeintlich sicheren Land über Nacht ein unsicherer Ort werden kann. Wie schnell meterhohe Feuerschwaden über zwei Anlagen als politischer Zündfunke eine ganze Region in Brand setzen könnten. All diese Sorgen kalkulieren die Händler jetzt ein. Als Risikoprämie, die den Preis längere Zeit um fünf bis sieben Dollar gegenüber der Zeit vor den Anschlägen verteuern könnte - also auf das Niveau, auf dem er sich im Laufe des Montags zunächst stabilisierte.
"Ich glaube nicht, dass Amerika eine Weltrezession auslösen will."
Auch einen solchen Aufschlag halten Ökonomen allerdings für weltwirtschaftlich verkraftbar. Der Preis stand in den vergangenen Jahren schon deutlich höher als heute ( siehe Grafik ). Was die Fachleute wirklich umtreibt, ist etwas anderes: dass die Spannungen in der Region eskalieren. "Ein neuer Golfkrieg zwischen dem Iran und Saudi-Arabien beziehungsweise den USA würde den Ölpreis deutlich steigern", sagt Stefan Kooths. "80 bis 100 Dollar Ölpreis über längere Zeit - das würde die Weltwirtschaft empfindlich treffen." Deutschland, das sich stark an den globalen Märkten ausrichtet, würde darunter besonders leiden.
"Ich glaube nicht, dass Amerika eine Weltrezession auslösen will", sagt Jörg Krämer. Aber natürlich wisse derzeit niemand, ob die Lage im Nahen Osten eskaliere. Verdoppelt sich der Preis, würde die Ölrechnung der Bundesrepublik dramatisch ansteigen - auf 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist eine Größenordnung, die dem recht ordentlichen Wirtschaftswachstum des Jahres 2018 entspricht. Dazu käme die allgemeine Unsicherheit, die die Konjunktur zusätzlich belasten würde.
Wie es im Nahen Osten weitergeht, werden auch die deutschen Verbraucher genau beobachten müssen. Bisher sind die Auswirkungen für sie unterschiedlich. Die Benzinpreise an den Zapfsäulen blieben am Montag trotz der Verteuerung des Rohöls konstant. Auch beim Gaspreis gab es am Montag keine Reaktion. Denn seit 2010 ist der Gaspreis offiziell vom Ölpreis entkoppelt. "So schnell reagiert da nix", sagt Jochen Klonner vom katholischen Verbraucherservice Bayern.
Anders beim Heizöl. Der Vermittler Josef Weichslberger wusste schon am Sonntag gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. "Wir haben online so viele Bestellungen bekommen wie noch nie an einem Tag", sagt er. In der Nacht auf Montag hat Weichslberger kaum geschlafen. Dabei ist der Mann seit 30 Jahren im Geschäft. Acht bis zehn Wochen müssen Kunden nun oft auf ihr Heizöl warten, sagt Weichslberger - und auch deutlich mehr zahlen. Allein am Montag stiegen die Preise für 100 Liter um neun Prozent.