Wahlen in Frankreich:Macron und die "Zwillinge der Angst"

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Wirbt für "eine stabile und ernsthafte Mehrheit": Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. (Foto: Christian Hartmann/dpa)

Bisher konnte Emmanuel Macron mit einer bequemen Mehrheit im Parlament regieren. Weshalb er jetzt mit Sorge auf die Wahl blicken muss und wie ihm ein Schulbesuch der Polizei nun schadet.

Von Nadia Pantel, Paris

Die Nervosität spürt man, wenn man auf die heftigen Worte hört. In einem Interview mit der Regionalpresse rief Frankreichs gerade im Amt bestätigter Präsident vergangene Woche seine Landsleute dazu auf, sich bei der Parlamentswahl für "eine stabile und ernsthafte Mehrheit" zu entscheiden. Also für die Mitte-Allianz "Ensemble!" - "Zusammen!", zu der auch Emmanuel Macrons eigene Partei gehört, La République en Marche. Die Alternative wäre "das Projekt von Chaos und Unterwerfung von Jean-Luc Mélenchon oder von Marine Le Pen". Und Frankreichs Umweltministerin Amélie de Montchalin ging diese Woche sogar so weit, Mélenchon und Le Pen "Zwillinge der Angst" zu nennen.

Der Hintergrund für den Alarmismus sind die guten Umfragewerte der neuen linken Allianz Nupes. Nachdem der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon mit einem radikal-ökologischen Programm bei den Präsidentschaftswahlen auf 22 Prozent der Stimmen kam und nur knapp den Einzug in die Stichwahl verpasste, konnte er sich als zentrale Kraft im linken Spektrum etablieren. Im Mai passierte dann, was Wochen zuvor noch kaum möglich erschien: Sozialisten, Kommunisten und Frankreichs grüne "Europe Écologie - Les Verts" (EELV) taten sich mit Mélenchon zusammen und bildeten die "Nouvelle union populaire écologique et sociale", die Nupes. Für den ersten Durchgang der Parlamentswahlen sagen die Umfrageinstitute nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Macrons "Ensemble!" und der Nupes voraus: Beide liegen zwischen 27 und 28 Prozent.

Für Macron könnte seine zweite Amtszeit also deutlich weniger komfortabel werden als seine erste. 2017 gelang es seiner frisch gegründeten Partei La République en Marche 314 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung zu gewinnen, viel mehr als die absolute Mehrheit, die schon mit 289 Sitzen erreicht gewesen wäre. Macron konnte sich also sicher sein, dass die Gesetze, die von seiner Regierung vorgeschlagen werden, von den Abgeordneten abgesegnet werden. Fünf Jahre später könnte das Ergebnis anders ausfallen. Zwar gehen nach wie vor alle Umfrageinstitute davon aus, dass die Ensemble-Allianz am Ende doch die größte Fraktion im Parlament werden dürfte - doch sie könnte die absolute Mehrheit verfehlen.

Tatsächlich war es bislang vor allen Dingen Jean-Luc Mélenchon, der mit seinem Slogan "Wählt mich zum Premierminister" den Wahlkampf dominierte. Ein hoch gegriffenes Ziel, wenn man sich das französische Wahlsystem anschaut. Gewählt werden die Abgeordneten der Nationalversammlung nach Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen, die erste Runde findet am 12. Juni statt, die zweite am 19. Juni. Radikalere Kandidaten werden in der Stichwahl traditionell aussortiert. So kam Marine Le Pens Front National (heute Rassemblement National) 2017 nur auf acht Sitze, obwohl Le Pen in der Präsidentschaftswahl 2017 im zweiten Wahlgang 34 Prozent geholt hatte. Macron kann zwar nun nicht darauf vertrauen, dass die Wähler der linken Nupes-Allianz mit derselben Aversion begegnen, aber er kann darauf hoffen, dass konservative und rechte Wähler dabei helfen werden, die Zahl der Nupes-Abgeordneten klein zu halten. Zudem haben die Wähler in Frankreich in der Vergangenheit meist denjenigen gestärkt, den sie gerade zum Präsidenten gewählt hatten.

Während die Nupes-Allianz im Wahlkampf von ihrem Neuigkeitswert profitierte, blieben Macrons Kandidaten blass. Und der Präsident selbst hielt sich auffallend zurück. Die von Macron neu aufgestellte Regierung verhält sich so still, als habe sie die Arbeit noch gar nicht wirklich aufgenommen. Die von Macron gewünschte Rentenreform soll nun erst 2023 angegangen werden. Die linke Nupes-Allianz fordert ein Absenken des Rentenalters auf 60 Jahre, Macron will es von 62 auf 65 Jahre anheben. Doch darüber wurde im Wahlkampf kaum gesprochen.

Zusätzlich zu der eigentümlichen Ruhe erschüttern Skandale die Staatsspitze. Damien Abad, der neue Minister für Solidarität, steht unter Vergewaltigungsverdacht, die Opposition fordert seinen Rücktritt. Zudem blamierte sich Innenminister Gérard Darmanin nach dem brutalen Polizeieinsatz beim Champions-League-Finale in der Pariser Banlieue. Beamte hatten massiv Tränengas eingesetzt, auch gegen Kinder, und Darmanin versuchte, die Schuld für die chaotischen Szenen zunächst auf die Fans des englischen FC Liverpool zu schieben. Was als Testlauf für die Olympischen Spiele 2024 gedacht war, die in Paris stattfinden werden, wurde zum Debakel.

Der jüngste Skandal begann am Donnerstag: Präsident Emmanuel Macron wurde bei einem Besuch in der südfranzösischen Stadt Gaillac von einer 18-Jährigen Schülerin angesprochen. Die junge Frau fragte: "Sie setzen an die Spitze des Staates Männern, denen Vergewaltigung vorgeworfen wird und Gewalt gegen Frauen, warum?" Der Präsident antwortete, "damit eine Gesellschaft funktioniert, muss die Unschuldsvermutung gelten".

Tatsächlich steht ein Vergewaltigungsverdacht nicht nur gegen den neu nominierten Damien Abad im Raum, sondern auch gegen Innenminister Gérard Darmanin. Als Darmanin im Sommer 2020 von Macron in die Regierung geholt wurde, hatte die Justiz gerade erneut Ermittlungen gegen den Minister eingeleitet. Feministinnen liefen damals Sturm gegen Macrons Entscheidung.

Zum Skandal entwickelte sich Macrons Begegnung mit der Schülerin, weil die 18-Jährige einen Tag später in ihrem Lycée von der Polizei aufgesucht wurde. Die Schülerin, die Laura heißt, sagte der Zeitung La Dépêche, sie sei zehn Minuten befragt worden und habe den Besuch der Beamten als "Einschüchterung" wahrgenommen.

Die Polizei gibt an, man habe die Schülerin besucht, weil diese nach der Begegnung mit Macron gesagt habe, selber Opfer sexueller Belästigung geworden zu sein. Man habe sie fragen wollen, ob sie Anzeige erstatten wolle. Laut der Schülerin sei dies zwar "sehr kurz" von der Polizei angesprochen, sie habe die Befragung aber als "doppeldeutig" empfunden.

Sicher ist, dass Macrons Strategie, vor der Wahl große Konflikte zu vermeiden, durch die Begegnung mit der Schülerin Laura einen schweren Schaden genommen hat. Der Polizeibesuch an Lauras Schule war in Frankreich das dominierende Thema in den sozialen Netzwerken.

Um die Mehrheit im Parlament zu halten, hat Macron bereits vor der Wahl eine Allianz geschmiedet. Seine La République en Marche tritt unter dem Label "Ensemble!" gemeinsam mit der Mitte-Partei MoDem an und mit der neu gegründeten Partei "Horizons" von Ex-Premier Édouard Philippe. Diese Allianz bringt insofern ein Risiko mit sich, als dass dem bei Wählern beliebten Philippe Ambitionen für die Präsidentschaftswahl 2027 nachgesagt werden. Es ist also unklar, ob und ab wann Philippe versuchen könnte, eigene Akzente zu setzen, die ihn von Macron abgrenzen. Macron selbst könnte 2027 nicht wieder antreten.

Passend zum wenig hörbaren Wahlkampf gehen Meinungsforscher von einer geringen Wahlbeteiligung aus. Schon 2017 gaben bei der Parlamentswahl nur knapp 49 Prozent der Wähler ihre Stimme ab. Dieses Mal könnten noch weniger zur Urne gehen. In Mélenchons Wählerschaft, zu der die unter 30-Jährigen gehören, ist das Interesse an der Wahl besonders gering.

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