Dortmund:Willkommen in der Arche 2.0

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Industriedenkmal: Nicht weit entfernt vom stillgelegten Hochofen der Dortmunder Hermannshütte ist ein modernes Wohngebiet entstanden. (Foto: picture alliance/Bernd Thissen/dpa)

In der Stadt können die Teilnehmer des Kirchentags die Probleme besichtigen, über die sie reden wollen.

Von Christian Wernicke

Wandel, das ist sein Job. Seit 35 Jahren kennt Hans-Gerd Nottenbohm nichts anderes. Als Geschäftsführer des "Union Gewerbehofs", einer Genossenschaft im Westen der Dortmunder Innenstadt, hat er viele Gründerideen aufblühen sehen. Und miterlebt, wie etliche Träume vom eigenen Betrieb verwelkten. Der gemütliche Mann mit dem grauen Schnauzer hat darüber seine Haare verloren, weshalb er beim Gespräch im "Hof-Café" der Initiative eine dunkle Kappe aufsetzt und in die Stirn zieht: "Gegen den Sonnenbrand." Für einen Moment sieht Nottenbohm, dieser Experte für Veränderung, da aus wie jener Charakter, der zum ewigen Klischee fürs Ruhrgebiet geworden ist: Adolf Tegtmeier, die legendäre Figur des Kabarettisten Jürgen von Manger, trug dieselbe Kopfbedeckung als Markenzeichen.

Nottenbohm kann sich noch erinnern, wie früher nebenan mehr als 2000 Mann im Hüttenwerk Union ihr täglich Brot verdienten. Noch heute überragt die "Grüne Wand", die angerostete Rückfront des toten Walzwerks, die roten Ziegelgebäude seines Gewerbehofes. Als dann in den Achtzigerjahren die Stahlkrise über Dortmund hereinbrach, da begann der heute 65-jährige Volkswirt sein Lebenswerk: Arbeitslose Malocher, Handwerker und Akademiker zogen gemeinsam in stillgelegte Labore der Hoesch AG und versuchten, sich selbst neue Beschäftigung zu schaffen. Mülltrennung, ein Sonnenofen, neues Werkzeug - alles wurde probiert. Später zogen Designer, Grafiker oder Stadtplaner ein. "Solo-Selbständige" nennt Gründervater Nottenbohm diese Kleinunternehmer, die im Union-Viertel 250 Arbeitsplätze geschaffen haben. Ein Achtel der früheren Jobs. "Unseren hehren Anspruch haben wir nicht eingelöst", bedauert Nottenbohm. "Der Strukturwandel hat eine ganze Generation gebraucht."

Der "Union Gewerbehof" ist ein Schauplatz des Evangelischen Kirchentags. "Zentrum Wandel" nennen die Protestanten diesen Ort, wo sie in Debatten oder bei der Bepflanzung einer hölzernen "Arche 2.0" nach Wegen zu mehr Nachhaltigkeit suchen. Das ist der Vorteil, wenn eine engagierte Kirche sich ausgerechnet in Dortmund trifft: Die evangelischen Christen stoßen in dieser 600 000 Einwohner zählenden Stadt überall auf exakt jene Probleme, über die sie reden wollen.

Das Elend ist Realität in dieser Stadt - und ebenso ist es Klischee

Die Dortmunder Nordstadt zum Beispiel ist die ideale Kulisse, um über Integration zu sprechen. Oder über Armut, Arbeitslosigkeit und ja, auch über deutsche Ängste: 60 000 Menschen leben hier, die Hälfte sind Ausländer aus 130 Nationen, davon 9000 Sinti und Roma. Jeder Vierte ist ohne Job, die Polizei fährt Extraschichten, um am Nordmarkt nachts die Drogenhändler oder tagsüber den Arbeiterstrich in den Griff zu bekommen.

Das Elend ist Realität - und ebenso Klischee. Als "Mobbing gegen die Stadt" geißelte Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) im Januar einen "Tatort" der ARD, der meist depressive Bilder zeigte. Sierau ist froh, dass der Kirchentag kommt, er baut auf die Kraft der Anschauung. Darauf, dass die Gäste das andere, das unbekannte Dortmund entdecken. "International, tolerant und weltoffen" sei Dortmund, eine "Stadt der Vielfalt". Und die Zeiten, da der Dortmunder Gleichklang ("Kohle, Stahl, Bier") über 100 000 Menschen Arbeit gab, seien längst vorbei: "Wir sind eine Stadt der Dienstleistungen, der Wissenschaft und Forschung."

Die letzte Zeche starb 1987, 2001 erkaltete der letzte Hochofen. Heute ist der größte Arbeitgeber der Stadt der Technologiepark, wo 300 Firmen bis zu 12 000 Jobs kreierten (hinzu kommen 10 000 Arbeitsplätze in der Technischen Universität nebenan). Auf dem riesigen Terrain der Westfalenhütte werden noch immer Bleche verarbeitet. Aber mehr Arbeitsplätze bieten dort inzwischen Logistikzentren von Amazon, Decathlon oder Schenker, bei denen auch Arbeitslose ohne Berufsausbildung eine Chance hatten. Die Arbeitslosigkeit, vor 15 Jahren bei 17,8 Prozent, pendelt noch immer um die zehn Prozent. Aber das "neue Dortmund" zählt inzwischen 245 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte - so viele wie zuletzt 1973.

Leuchtturm dieser verwandelten Stadt ist der Phoenix-See im Stadtteil Hörde. Wo früher die Hermannshütte Roheisen zu Stahl verarbeitete, stehen heute moderne Familienhäuser und luxuriöse Villen. Der See samt Weinberg am Ufer ist Naherholungsgebiet. In Phoenix-West ragt noch ein alter Hochofen als Industriedenkmal in den Himmel. Fast 2000 neue Jobs sind in Hörde entstanden, weshalb auch dieser Stadtteil ein spannendes Objekt christlicher Beobachtung wäre: Die Mieten steigen, es droht soziale Verdrängung. Dortmund, die Malocherstadt, ist zur Heimat einer gebildeten Mittelschicht geworden. Bei der Europawahl landete die SPD in ihrer einstigen "Herzkammer" erstmals nur auf Platz zwei - hinter den Grünen.

Auch im Union-Viertel bricht wieder Wandel an. Ein Investor plant auf der Industriebrache neben dem Gewerbehof Wohnungen, ein Wissenschaftspark soll die Fachhochschule anlocken. Es ist nicht sein Projekt - aber der Traum des Hans-Gerd Nottenbohm könnte sich noch erfüllen.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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