Die Bundeskanzlerin sitzt in einer digitalen Diskussionsveranstaltung zur digitalen Bildung, und ihr zentraler Satz bringt die Dringlichkeit des Themas auf den Punkt: "Da muss die ganze Bundesrepublik neu gedacht werden", sagt Angela Merkel.
Die Kanzlerin ist es gewohnt, sich mit großen Problemen herumzuschlagen. Aber dieses hier ist besonders groß. Gerade an den Schulen hat die Pandemie aufgezeigt, dass Deutschland ein digitales Entwicklungsland ist. Gemessen daran präsentiert sich Merkel an diesem Montag erstaunlich beschwingt. Gemeinsam mit ihrer CDU-Kollegin Anja Karliczek, der Bundesbildungsministerin, diskutiert sie mit Experten aus den Ländern, der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft, und sie hat keine Stanzen mitgebracht, sondern plaudert eher so drauflos. Sie habe zu ihren Schulzeiten Schwierigkeiten gehabt, sich Gedichte zu merken, verrät Merkel etwa. Auch von dem alten Merkspruch aus dem Geschichtsunterricht, "Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei", hat sie bis zu diesem Montag noch nie etwas gehört, was sie prompt dem DDR-Schulsystem anlastet. Das Schöne an der Digitalität sei aber, dass man all das sehr schnell im Netz nachschauen könne. "Aber da gibt es auch Abrisskanten", findet die Kanzlerin. "Man kann auch sehr viel Zeit im Internet verlieren, mal hier und mal da gucken und hat nichts gelernt." Wohl wahr.
Nun hat sie also gemeinsam mit Karliczek die "Initiative Digitale Bildung" ins Leben gerufen, deren Zweck Merkel so beschreibt: "Wo passiert überall was, und wie können wir das ordnen?" Das wüssten viele Lehrer, Rektoren und Schüler in diesem Land natürlich auch gerne. Für etwas mehr Ordnung sollen künftig unter anderem eine nationale Bildungsplattform sowie eine App namens "Stadt, Land, Datenfluss" sorgen. Es sei die erste App, für die sie eine Schirmherrschaft übernommen habe, verkündet die Kanzlerin mit süffisantem Tonfall. Das muss aber nicht gegen die App sprechen.
"Nicht wahr, Anja?", fragt die Kanzlerin süffisant
So, und jetzt wünsche sie allen viel Erfolg bei der digitalen Bildung, sagt Merkel zum Abschied in die Runde. "Und uns beim Bund natürlich auch. Nicht wahr, Anja?" In ihrer hemmungslos guten Laune stört die Kanzlerin offenbar nicht, dass einige das als versteckte Spitze gegen Anja Karliczek interpretieren könnten, der ja ein Großteil der aktuellen Bildungsmisere angelastet wird.
Dabei hat Karliczek wegen der Bildungshoheit der Länder nur bedingt Einfluss auf das, was in den Klassenzimmern passiert. Aber angesichts der offensichtlichen Schwierigkeiten, in der Krise einen sinnvollen Digitalunterricht zu organisieren, weht ihr der Sturm der Entrüstung trotzdem mitten ins Gesicht. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken wirft der Ministerin gar "Politikverweigerung" vor.
Tatsächlich war Karliczek in Sachen Digitalisierung zuletzt keineswegs untätig. Sie tut nach Kräften das, was in ihrer Macht steht: Bundesgeld bereitstellen. Beim Digitalpakt Schule waren es zuletzt insgesamt sechseinhalb Milliarden Euro. Weil das Geld in den Ländern aber sehr zäh abfließt, sind deshalb noch lange nicht alle Klassen mit einem schnellen Wlan oder alle Lehrkräfte mit einem Dienstlaptop ausgestattet. Wer daran schuld ist? Da zeigen im föderalen Bildungssystem stets die Finger gegenseitig aufeinander.
Allen ist klar, dass die Zeit drängt. Andererseits entzieht sich die Bildungspolitik zu einem gewissen Grad einer kurzfristigen Steuerung. Auch am Montag ging es eher um die Lösung altbekannter Probleme, die der aktuelle Ausnahmezustand in den Hintergrund gedrängt hat. Kern der Initiative ist die Einrichtung einer zentralen Bildungsplattform für alle Bürger. Dafür will Karliczek bereits bestehende Digitalprojekte aus dem Schulbereich, der beruflichen Bildung und der Erwachsenenbildung zusammenfügen. Lehrer sollen dort digitales Unterrichtsmaterial finden, Arbeitnehmer passende Weiterbildungsangebote, Schüler und Studierende ihre verschlüsselt abgelegten Zeugnisse und Diplome. Karliczek sagt: "Das ist ein komplexes Projekt, dessen Umsetzung eine gewisse Zeit benötigen wird." Ob sie noch Ministerin ist, wenn das eines Tages anläuft, darf man bezweifeln.