Die EU hat die Wahl:Zwischen Pest und Cholera

Lesezeit: 4 min

Ein harter Brexit mit unberechenbaren Folgen oder die Fortsetzung des quälenden Austrittsprozesses? Das ist die Frage. "Die Briten haben immer noch keinen Plan, wie ihre Zukunft aussehen soll", sagt ein EU-Diplomat.

Von Matthias Kolb,Alexander Mühlauer

Nun also der nächste Gipfel. Wenn nicht noch etwas dazwischenkommt, werden sich die Staats- und Regierungschefs der EU am 10. April in Brüssel treffen. Die 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten müssen dann entscheiden, ob Großbritannien die Gemeinschaft ohne einen Austrittsvertrag verlassen soll - oder ob es einen langen Brexit-Aufschub gibt. Die EU hat also die Wahl zwischen einem Ende mit Schrecken, sprich einem No Deal mit unberechenbaren Folgen, oder einem Schrecken ohne Ende, also einer weiteren Verlängerung des quälenden Austrittsprozesses, von dem niemand weiß, wann er überhaupt einmal aufhören soll.

Doch bevor die EU-27 darüber befinden, muss sich die britische Premierministerin Theresa May erklären. Aus EU-Sicht sind zwei Fragen entscheidend. May muss erstens sagen, wie es jetzt mit dem Brexit weitergehen soll. Und zweitens: wie viel Zeit sie dafür braucht. Die EU hat der Premierministerin bereits beim jüngsten EU-Gipfel deutlich gemacht, dass eine Brexit-Verschiebung über den vereinbarten Stichtag am 12. April hinaus nur dann möglich ist, wenn Großbritannien an der Europawahl Ende Mai teilnimmt. Das ist die Grundvoraussetzung für einen weiteren Aufschub. Wie lang dieser sein soll, davon kursieren in der EU unterschiedliche Vorstellungen: Sie beginnen beim 31. Dezember dieses Jahres und reichen bis Ende 2020. Gut möglich, dass das Brexit-Drama zur Endlosschleife wird.

In Brüssel sind sich die entscheidenden Akteure einig: Der Brexit wird die EU wohl noch länger beschäftigen, als es ihr lieb ist. "Die Briten haben noch immer keinen Plan, wie ihre Zukunft nach dem Brexit aussehen soll", sagt ein EU-Diplomat. May wolle einfach nur den Brexit "über die Bühne bringen", habe aber keine Vorstellung, was aus ihrem Land einmal werden solle. Die EU pochte deshalb von Anfang an darauf, dass Großbritannien sich entscheiden soll, welche Vorteile der EU-Mitgliedschaft es abgeben will, um Souveränität zurückzuerlangen. Doch diese Frage hat London bis heute nicht beantwortet.

Einzig allein ein No-Deal-Szenario wurde bislang vom Unterhaus mehrheitlich ausgeschlossen. Doch selbst im Fall eines chaotischen Brexit dürfte es schon bald wieder darum gehen, worüber seit zwei Jahren verhandelt wird. Die EU hat May klargemacht, dass Großbritannien drei Bedingungen erfüllen muss, bevor es zu Gesprächen über einen Freihandelsvertrag kommt. Demnach muss London die noch offenen finanziellen Verpflichtungen seiner EU-Mitgliedschaft erfüllen, die Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich umfassend sichern und das Karfreitagsabkommen wahren, das den Frieden zwischen Irland und Nordirland garantiert. Im Grunde sind das nichts anderes als jene drei Forderungen, um die es schon in den Verhandlungen über das Austrittsabkommen ging. Und schon wäre man wieder in der Endlosschleife.

Wie es aussieht, dürften die Staats- und Regierungschefs der EU-27 wohl am ehesten einer Verlängerung des Brexit zustimmen. Für einen No Deal mit unberechenbaren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft will keiner verantwortlich sein. "Jeder der Staats- und Regierungschefs ist sich seiner historischen Verantwortung bewusst", sagt ein EU-Diplomat. Und jeder weiß natürlich auch, dass die Entscheidung über eine mögliche Verlängerung einstimmig fallen muss. Ob es der EU gelingt, ihre Einigkeit zu wahren, wird eine der entscheidenden Fragen des Brexit-Gipfels.

In den kommenden Tagen wird die EU weiter gebannt in Richtung London blicken: Gibt es noch Abstimmungen im Unterhaus, die darauf schließen lassen, was Großbritannien will? Es ist ja nicht so, dass sich Brüssel und London damit noch nie auseinandergesetzt haben; es gibt ja sogar die sogenannte politische Erklärung, die dem Austrittsvertrag beigefügt werden sollte. May stellte diese am Freitag nicht zur Abstimmung - ob sie deren Inhalte noch einmal ändern will, ist genauso offen wie die Frage, ob diese Erklärung überhaupt noch einmal gebraucht wird.

Am Freitag ging es für die EU in den Stunden nach der Abstimmung im Unterhaus vor allem darum, den Abgeordneten in London und der britischen Regierung klarzumachen, dass es trotz des Bedauerns über die dritte Abstimmungsniederlage für May auch jetzt keine Rosinenpickerei geben werde. "Die im Austrittsvertrag festgeschriebenen Vorteile, inklusive der Übergangsperiode, sind im Falle eines No-Deal-Szenarios nicht replizierbar", teilte eine Sprecherin der EU-Kommission mit.

Das Team um Chefunterhändler Michel Barnier wird genau darauf achten, die Einigkeit der EU-27 zu wahren und separate Absprachen einzelner Mitglieder mit London zu verhindern. "Mini-Deals in einzelnen Sektoren sind keine Option", betonte die Sprecherin. Ähnlich hatte die EU-Kommission schon zu Anfang der Woche argumentiert, als sie den EU-Bürgern und -Firmen zugesichert hatte, für den Ernstfall eines "harten Brexit" am 12. April gerüstet zu sein. Bisher wurden schon 17 von 19 Brexit-Notfallverordnungen rechtlich umgesetzt - von der Sicherheit des Flug- und Schienenverkehrs über Fischereirechte und Finanzdienstleistungen.

Als weiterer wichtiger Termin wird nun der 18. April genannt. Bis zu diesem Tag muss die britische Regierung erklären, ob sie die fälligen Beiträge in den EU-Haushalt einzahlen wird. Dies wird in Brüssel als Gradmesser dafür gesehen, "wie ernst sie es meinen" in London. Wer auch künftig eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der EU anstrebe, wie sie bereits in der politischen Erklärung skizziert worden war, müsse hier seine Verpflichtungen einhalten, sagt ein EU-Diplomat: "Wir wollen unser Geld zurück."

In Brüssel herrscht die Überzeugung, im Falle eines Chaos-Brexit in der besseren Verhandlungsposition zu sein, und diese Position vertritt man selbstbewusst. Wenn die drei Forderungen - Frieden in Nordirland, gleiche Rechte für Bürger und Erfüllung der Finanzverpflichtungen - nicht erfüllt seien, würde mit Verhandlungen erst gar nicht begonnen. "Die Briten stünden ganz hinten in der Schlange und würden bei null anfangen. Es gibt genug Staaten, die Freihandelsabkommen mit uns abschließen wollen und mit denen verhandelt wird", sagt ein EU-Diplomat.

© SZ vom 30.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: