Der Kompromiss:Spielregeln für die Scheidung

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Also doch: Der britische Premierminister Boris Johnson (links) bekräftigt die Einigung mit der Europäischen Union per Handschlag mit Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker. (Foto: Francisco Seco/AP)

Faire Steuern, hohe Standards für Verbraucher und eine durchlässige Grenze auf der irischen Insel: Wie Brüssel und London in dem neuen Abkommen zentrale Streitfragen lösen wollen.

Von Björn Finke und Matthias Kolb

Michel Barnier ist spät dran und bittet um Verzeihung. "Geduld ist eine Tugend, und Brexit ist eine Schule der Geduld", sagt der Chefunterhändler der EU zu Beginn der Pressekonferenz. Aber was sind schon 20 Minuten, wenn es endlich einen Deal mit der britischen Regierung gibt? Nach Tagen intensiver Verhandlungen, denen in Brüssel Monate ungläubiger Beobachtung der Wirren der britischen Politik vorangingen, haben sich die Expertenteams geeinigt. Drei Stunden vor Beginn des EU-Gipfels ist der Rechtstext veröffentlicht, und Barnier erklärt die wichtigsten Punkte.

"Rechtssicherheit" für Bürger und Firmen liefere die gefundene Lösung, sagt der 68 Jahre alte Franzose und betont, die EU-27 und das Königreich hätten dies "gemeinsam" geschafft. Der Diplomat wechselt ins Englische, als er über den Teil des Austrittsvertrags spricht, der neu geschrieben werden musste: das "Protokoll über Irland/Nordirland". Es gibt demnach keine harte Grenze, die das EU-Mitglied Irland vom britischen Nordirland trennt, der Binnenmarkt bleibt intakt und die Stabilität in der einstigen Unruheprovinz gewahrt. Die Debatte sei oft um technische Fragen gekreist, sagt Barnier, doch ihm sei immer klar gewesen: "Die Leute sind am wichtigsten. Was wirklich zählt, ist der Frieden."

Ähnlich erleichtert zeigt sich Jean-Claude Juncker: "Bei dem Deal geht es nicht um uns, sondern um die Menschen und den Frieden." Er verkündet, dass in seinen Augen keine Verschiebung des Austrittsdatums 31. Oktober nötig sei. Davor müssten alle nötigen Texte in 23 Sprachen übersetzt werden und das EU-Parlament müsste rechtzeitig zustimmen. Die EU-Staats- und Regierungschefs billigen das Abkommen am frühen Abend. Wenig später stellt der britische Premier Boris Johnson in einem überfüllten Pressesaal seine Sicht der Dinge dar. Johnson geht schnellen Schrittes Richtung Podium, lächelt leicht. "Es ist ein großartiges Abkommen für unser Land", sagt er. Der Austrittsprozess sei "nicht immer eine einfache Erfahrung gewesen für das Vereinigte Königreich". Er ziehe sich lang hin, sei "schmerzhaft" und "polarisierend", doch nun sei es an der Zeit, dass sich Land und Parlament hinter dieser Lösung versammelten. Viele Fragen beantwortet der Politiker nicht, denn er verbringt den Abend mit den anderen Regierungschefs: "Jetzt muss ich zum Abendessen gehen."

Eine Zollunion soll es nicht geben, das aber heißt, dass Lastwagen kontrolliert werden müssen

Um eine Einigung zu ermöglichen, war Johnson der EU beim Thema level playing field entgegengekommen. Diesen fairen Spielregeln für die Wirtschaft widmet sich der lange Absatz Nummer 77 im neu vorgelegten Entwurf der politischen Erklärung. Johnsons Vorgängerin Theresa May hatte versprochen, dass sich das Königreich bei Regeln zum Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitnehmerschutz sowie zu Subventionen weiter eng an der EU orientieren werde. Einen Unterbietungswettlauf, um Konzerne mit einem geringeren Schutzniveau anzuziehen, sollte es nicht geben. Johnson hingegen ist es wichtig, nach dem Brexit und der Übergangsphase eigene Standards setzen zu dürfen. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte jüngst, Großbritannien könnte zu einem "Wettbewerber" in direkter Nachbarschaft zur EU werden.

Nun konnte Barnier aber Johnson zu einer Verpflichtung auf hohe Standards bewegen. Die Passage der politischen Erklärung gibt als Ziel "offenen und fairen Wettbewerb" vor und "robuste Verpflichtungen, die ein level playing field garantieren". Beide Seiten sollten hohe Standards und eine faire Besteuerung beibehalten. Die Details und der Grad der Übereinstimmung sollen demnach davon abhängen, wie umfassend und ehrgeizig das künftige Handelsabkommen ausfällt.

Diesen Freihandelsvertrag wollen Brüssel und London während der Übergangsphase abschließen, in der sich für Firmen und Bürger nichts ändern soll. Diese Phase läuft Ende 2020 aus, kann aber verlängert werden. Das Abkommen würde verhindern, dass Zölle eingeführt werden bei Geschäften zwischen dem Königreich und der EU. Die - unverbindliche - politische Erklärung formuliert Ziele für die künftigen Beziehungen und diesen Vertrag.

Für die britische Wirtschaft ist ein einfacher Zugang zum Binnenmarkt sehr wichtig. Den Vorschlag mancher Brexit-Enthusiasten, nach dem Austritt die Standards zu schleifen, sehen Wirtschaftsverbände daher skeptisch. Zwar begrüßen Unternehmer grundsätzlich Deregulierung, aber in diesem Fall befürchten sie, dass der Preis für laxere Regeln - nämlich schlechterer Zugang zum EU-Markt - viel zu hoch wäre.

Barnier macht in seiner Rede auch klar, dass die EU nun tatsächlich bloß von einem Handelsvertrag mit den Briten ausgeht. Andere Varianten, die eine stärkere Verzahnung ermöglichen wie eine Zollunion oder eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt, wünsche die Regierung Johnson nicht, sagt der Franzose. Ohne Zollunion müssten jedoch an den Grenzen Laster kontrolliert werden - selbst dann, wenn dank eines Freihandelsvertrags keine Zölle auf britische oder EU-Produkte anfallen.

Allerdings wollen beide Seiten verhindern, dass an der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland Posten errichtet werden müssen. Brüssel und London einigten sich auf eine komplizierte Regelung, der zufolge britische Zöllner in Nordirlands Häfen EU-Zollregeln anwenden, wenn das Risiko besteht, dass die Ware weiter in die Republik Irland transportiert wird. Welche Produkte darunter fallen, soll während der Übergangsphase diskutiert werden. Strittig war bis zuletzt, welche Regeln für die Mehrwertsteuer in Nordirland gelten sollen. Auch dazu gibt es nun eine Vereinbarung.

Außerdem soll sich Nordirland weiter an Verbraucherschutz- und Produktstandards der EU halten. Damit wird vermieden, dass Zöllner an der Grenze zur Republik Irland prüfen müssen, ob die Ladung von Lastern Brüsseler Vorgaben genügt. Dafür muss dies in Nordirlands Häfen kontrolliert werden.

Johnson forderte, dass das nordirische Regionalparlament und die dortige Regierung regelmäßig entscheiden dürfen, ob sich die Provinz weiter an die Regeln Brüssels oder lieber Londons halten soll. Der ursprüngliche Vorschlag hätte der nordirischen Partei DUP, die Johnsons Regierung stützt, de facto ein Vetorecht gegeben. Die EU lehnte das ab. Eine abgewandelte Version war jetzt für beide Seiten akzeptabel.

Offen ist, wie Kontrollen zwischen England und dem Festland abzuwenden sind. Allein Europas belebtester Fährhafen Dover fertigt an Spitzentagen 10 000 Laster von Schiffen von und nach Calais und Dünkirchen ab. Das EU-Parlament will sich für die sorgfältige Prüfung und Verabschiedung eines Austrittsvertrags Zeit nehmen. Das kündigte der Parlamentsbeauftragte für den Brexit, Guy Verhofstadt, an. Diese Prüfung könne über den 31. Oktober hinaus andauern. Die EU-Abgeordneten würden ihre Arbeit erst beginnen, wenn das britische Parlament einem bindenden Vertrag zugestimmt habe. Und genau das ist noch offen. EU-Chefunterhändler Barnier sagt, als Mann aus den Bergen - er kommt aus der Alpenregion Savoyen - sei er "eher nüchtern" und "vorsichtig". Die Besteigung von Mount Brexit ist noch nicht geschafft.

© SZ vom 18.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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