Jons Goldberg will wissen, was die Menschen über die Kanzlerin und die AfD denken, doch die Menschen sagen es ihm nicht. Zwölf Nummern hat er schon angerufen, eine war ein Faxgerät, viermal ging der Anrufbeantworter dran, vier hatten keine Zeit und drei legten einfach auf, während Goldberg noch erklärte, dass er im Auftrag des ZDF arbeitet. "Ist zäh heute Abend", sagt er. Manchmal ginge das zwei Stunden so. Manchmal würden die Menschen ihm mit der Polizei drohen oder mit der Trillerpfeife in den Hörer blasen.
Es summt wie in einem Bienenschwarm an diesem Abend in den Büros der Forschungsgruppe Wahlen (FGW). 135 Interviewer sitzen auf zwei Etagen nebeneinander, Headsets auf den Ohren, die Augen auf Bildschirme gerichtet. Rentnerinnen, Studenten und gewöhnliche Menschen im Joggingpulli wie Jons Goldberg. Sie verdienen zwölf Euro die Stunde, um in Telefonumfragen Daten zu sammeln, die Deutschlands politische Stimmung messen; Daten, die Meinungsforscher für das "Politbarometer" im ZDF interpretieren. Doch ihre Arbeit wird immer schwieriger - und gerade ist sie mal wieder massiv in der Kritik.
Die Demoskopen haben versagt, hieß es nach dem Wahlsieg von Donald Trump, die Meinungsforscher irrten wieder, stand nach der Wahl in Österreich in den Zeitungen. Und wenn 2017 hierzulande gewählt wird? Landet dann die AfD bei zwanzig Prozent, und niemand hat es geahnt?
"Die Qualität ist viel besser geworden"
Die FGW ist eines der führenden Institute in Deutschland, seit 1974 erforscht sie für das ZDF das Wählerverhalten. Matthias Jung ist seit 1987 dabei, seit 1991 im Vorstand; lange genug, um zu wissen, wovon er redet. Eben, vor dem Mittagessen, hat er mit Kollegen noch den Fragebogen überarbeitet, nach der Festnahme zum Mord in Freiburg haben sie drei Fragen über Flüchtlinge hinzugefügt, Routine. Jung sagt über seine Arbeit: "Die Qualität ist viel besser geworden", aber "die Anspruchshaltung höher." Unrealistisch hoch.
Jung, 59, hat eine deutsche Zeitung vom Tag vor der US-Wahl aufgehoben, Schlagzeile: "Amerikas Demoskopen warnen vor Überraschungen." Jung und seine Kollegin Andrea Wolf haben sich aber auch geärgert, wie auf ihren US-Kollegen herumgehackt worden ist. Hätten Journalisten die Daten richtig gelesen, sagen sie, dann hätte klar sein müssen, dass es auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hinauslaufe, dessen Ausgang keine Umfrage vorhersehen könne; in Österreich genauso. Früher, schimpft Jung, hätten mehr Journalisten die Statistiken richtig interpretiert. Heute würden sie oft nur die Ranglisten sehen.
Das Phänomen, das in den USA als Grund für die Fehleinschätzung vermutet wurde, gebe es zwar hier auch, nämlich Protestwähler, die an Umfragen nicht teilnehmen oder lügen, und dann für die Populisten stimmen. Aber für Jung ist das nichts Neues. Der Erfolg der AfD? Alles schon mal da gewesen und wieder verschwunden, bei den Republikanern oder auch den Piraten. Jung ist einer jener Menschen, denen man zuhört, wenn sie erzählen, dass früher alles besser war - und auch alles wieder besser werde, irgendwann. Andererseits: Es sieht schon ziemlich nach früher aus bei der Forschungsgruppe, Staub liegt auf den Akten. Und das ist ja gerade der zweite Teil der Kritik: Sind die Methoden der Meinungsforscher vielleicht überholt?
In der Wirtschaftswoche erschien nach der US-Wahl ein Interview mit dem einzigen Demoskopen, der Trump in den Umfragen vorne gesehen hatte. Obwohl seine Zahlen auch etwas danebenlagen, erklärte er selbstbewusst, was er und seine Forscher von der University of Southern California anders gemacht hatten. Sein Team hatte mit den Wählern im Internet gechattet. Da konnte niemand auflegen. Die Kritik, dass auf Festnetzanschlüsse beschränkte Telefonumfragen nur die Alten erreichen, gibt es nicht erst seit neulich, doch Jung wiegelt ab. Zu wenige alte Menschen nutzen das Internet, das würde die Werte viel stärker verzerren. Eine Zufallsauswahl sei nicht möglich, weil sich E-Mail-Adressen nicht wie Telefonnummern generieren ließen. Und Handyumfragen sind schwierig, weil die Menschen unterwegs nicht viel Zeit haben, außerdem lässt sich die Stichprobe nicht regional zuordnen. Nein, Jung ist sich sicher: "Von allen zur Verfügung stehenden Instrumenten haben wir den besten Zugang zur Bevölkerungsmeinung."
Am Platz von Jons Goldberg klappt es beim 13. Anruf zum ersten Mal: Es geht eine Frau ans Telefon, 35 bis 39 Jahre alt, trägt er ein, verheiratet, zwei Kinder. Das Instrument funktioniert so, dass ein Wählautomat ihre Nummer zufällig generiert hat, dann muss Goldberg nach der wahlberechtigten Person im Haushalt fragen, die zuletzt Geburtstag hatte. Insgesamt führen bis zu 300 Interviewer von Dienstag bis Donnerstag etwa 1250 Interviews, 1000 gelten für repräsentative Werte als Minimum. Was umständlich klingt, ist für jeden Statistik-Erstsemester verständlich. Spannend (und eben manchmal fehlerhaft) wird es im letzten Schritt, den die Demoskopen lieber für sich behalten: die Gewichtung der Daten.
Klar, sagt Andrea Wolf jetzt, sei es ein Problem, dass AfD-Wähler weniger an den Befragungen teilnehmen, "aber wir können aufgrund unserer Erfahrung damit arbeiten." AfD-Wähler, die nicht mit ihnen sprechen, rechnen sich die Forscher einfach dazu; nach welchen Kriterien genau, das ist Betriebsgeheimnis, genau wie die Anzahl derer, die auflegen. Beim letzten "Politbarometer" im November sagten zehn Prozent der Befragten, sie würden die AfD wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre. In der Projektion, der Vorhersage, rechnete die FGW mit 13 Prozent. Bei den Grünen, sagen sie, ist es umgekehrt: Die machen so gerne mit, dass der Anteil immer ein wenig verringert werden muss.