Demonstrationen in der Türkei:"Wir sind alle Berkin"

Funeral ceremony for Gezi Park protester

Berkin Elvan war seit Juni 2013 im Koma, nun ist er gestorben. Sein Sarg wird durch die Straßen Istanbuls getragen.

(Foto: dpa)

Sie rufen "Erdoğan - Mörder": Hunderttausende Türken schließen sich dem Trauerzug für Berkin Elvan an. Der 15-Jährige war am Rande der Gezi-Park-Proteste von einer Tränengasgranate getroffen worden. Zu seiner Beerdigung wabern nun wieder Gasschwaden durch die Stadt.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

"Mein Mondgesicht, mein Lieber", steht auf einem weißen Blatt. Eine Frau hält das Papier über den Köpfen der Menge in die Höhe, die Buchstaben sind ein wenig krakelig. Die Zeilen auf dem handgeschriebenen Zettel gelten dem 15-jährigen Türken Berkin Elvan, der nach 269 Tagen im Koma gestorben ist. Eine Tränengasgranate der Polizei hatte den Jungen vor neun Monaten am Kopf getroffen, als in Istanbul Hunderttausende gegen die Bebauung des Gezi-Parks protestierten.

Nun sind wieder so viele Menschen in Istanbul auf den Beinen, und inmitten des mehrere Kilometer langen Trauerzuges tragen einige von ihnen am Mittwoch einen in ein rotes Tuch gehüllten, mit Blumen geschmückten Sarg auf den Schultern. Viele strecken ihre Hände aus, wollen den Sarg berühren, ihn ein Stück weit mittragen. Einige der Menschen halten blutbeschmierte Brotlaibe in die Höhe, weil Berkin Elvan nach Aussage seiner Eltern damals nur deshalb auf der Straße war, um am Abend für seine Familie frisches Brot zu holen.

Anti-government protesters carry bread during a demonstration marking the funeral of Berkin Elvan in Ankara

Die Demonstranten halten blutbeschmierte Brotlaibe in die Luft. Berkin Elvan war unterwegs, um Brot zu kaufen, als er von einer Tränengasgranate getroffen wurde.

(Foto: REUTERS)

Okmeydanı ist ein ärmlicher Istanbuler Bezirk. Dort leben die Elvans, und dort ist auch ihr Sohn gestorben. Das Viertel liegt ausgerechnet in der Nachbarschaft jenes nicht weniger armseligen Quartiers, in dem Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan aufgewachsen ist, gegen den sich die Wut der Trauernden richtet. Gülsüm Elvan, die Mutter des Toten, hat gesagt, nicht Gott habe ihr den Sohn genommen, sondern Erdoğan. Weil der Premier die Polizisten, die so hart gegen die Gezi-Demonstranten vorgegangen waren, als "Helden" gefeiert hatte. Die Worte der Mutter wiederzugeben, hat sich der große private türkische Sender NTV offenbar nicht getraut, der Sprecher bricht mitten im Satz ab.

"Wie kann dieser Mann noch Premier sein?"

Die Elvans sind Aleviten, eine religiöse Minderheit in der Türkei. Deren Angehörige fühlen sich oft von der sunnitischen Mehrheit diskriminiert. "Unsere Kinder bekommen keine Jobs im Staat", schimpft ein Mann am Rande der Trauerfeier in einem Cemevi, einem Gotteshaus der Aleviten, die rund 15 Prozent der Bevölkerung stellen. "Wie kann dieser Mann noch Premier sein?" fragt Nurten, eine Frau mit locker gebundenem Kopftuch, die nur ihren Vornamen nennt. "Wir sind alle Berkin", rufen drei junge Mädchen im Chor. Eine der drei, eine 20-jährige Studentin, hält eine rote Fahne. Sie sagt: "Berkin ist wie unser Bruder." Die Mädchen erzählen, ihre Eltern hätten ängstlich reagiert, als sie zu der Beerdigung aufbrachen. "Aber das ist es ja gerade: Die Regierung will uns Angst machen, aber wir fürchten uns nicht."

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