Debatte um Karenzzeiten für Spitzenpolitiker:Brüsseler Drehtüren

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Wichtige Adresse in Brüssel für Lobbyisten: das Berlaymont-Gebäude, der Sitz der Europäischen Kommission. Jock Fistick/Bloomberg (Foto: Bloomberg)

Aus der Politik in die Wirtschaft: Während Deutschland über den Fall Pofalla diskutiert, gibt es in der Europäischen Union schon Regeln. Erst nach 18 Monaten dürfen EU-Kommissare zu Unternehmen wechseln, über Streitfälle entscheidet ein Ethikrat. Das klingt gut, bleibt aber oft Theorie.

Von Kathrin Haimerl

Er ist einer der prominentesten Seitenwechsler der EU: Kaum war Günter Verheugen (SPD) nicht mehr Industriekommissar, da heuerte er als Berater bei der Royal Bank of Scotland, bei Volks- und Raiffeisenbanken und zwei weiteren Verbänden an. Außerdem gründete er mit seiner ehemaligen Kabinettschefin Petra Erler eine eigene Lobbyagentur. Die "European Experience Company" bietet unter anderem "Unterstützung bei europabezogener Öffentlichkeitsarbeit" und "Management-Intensivkurse mit Experten aus den europäischen Institutionen". Gegründet wurde das Unternehmen im April 2010 - zwei Monate nach Verheugens Abschied aus der Kommission.

In Deutschland befeuert derzeit der mögliche Wechsel Ronald Pofallas (CDU) zur Deutschen Bahn die Debatte um Karenzzeiten für Politiker: Die Grünen fordern eine dreijährige Übergangsfrist, der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim und die Linken sogar eine Karenzzeit von fünf Jahren. EU-Kommissar Günther Oettinger verweist als "gutes Modell" auf Brüssel, wo es solche Regeln schon gebe.

Stimmt schon, in Brüssel gibt es Regelungen. Seit dem Fall Verheugens wurden sie sogar noch verschärft. Die Übergangsfrist wurde von zwölf auf 18 Monate verlängert. Außerdem verpflichtet ein Verhaltenskodex ehemalige Kommissare dazu, bei der Aufnahme von Tätigkeiten nicht nur "ehrenhaft und zurückhaltend" zu sein, sondern sie der Kommission auch rechtzeitig zu melden. Darüber hinaus dürfen sie in der Übergangszeit keine Lobbyarbeit betreiben, die ihren ehemaligen Zuständigkeitsbereich betrifft. In strittigen Fällen entscheidet ein Ethik-Komitee.

Das klingt erst einmal gut. Doch in der Praxis hatten diese Regelungen bislang kaum Konsequenzen, denn fast immer gab es Ausnahmegenehmigungen. So auch bei Verheugen: Er durfte seiner Lobbytätigkeit weiter nachgehen, selbst im Kontakt mit wichtigen EU-Spitzenbeamten. Die Kommission erteilte nur ein Kontaktverbot mit seiner eigenen ehemaligen Behörde. Damit setzte sie sich über die Empfehlung ihres Ethik-Gremiums hinweg: Dieses wollte Verheugen die Geschäftsführertätigkeit seiner Agentur nicht genehmigen.

Fünf Ex-Kommissare und ihre Seitenwechsel

Neben Verheugen gibt es Lobbycontrol zufolge noch fünf ehemalige EU-Kommissare, die nach ihrer letzten Amtsperiode die Seiten gewechselt haben und dabei möglicherweise in einen Interessenkonflikt geraten sind:

  • Die Ex-Kommissarin für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik, Benita Ferrero-Waldner, ging im Februar 2010 als Aufsichtsrätin zum Versicherungsriesen Munich Re. Der Konzern führt ein Konsortium an, das das Wüstenstromprojekt Desertec plant. Das wiederum wird von der EU-Kommission unterstützt.
  • Die bulgarische Ex-Verbraucherkommissarin Meglena Kuneva wechselte zur französischen Bank BNP Paribas.
  • Der ehemalige Fischereikommissar Joe Borg ging zum Beratungsunternehmen Fipra, das unter anderem für Reedereien arbeitet.
  • Der frühere Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy sitzt im Aufsichtsrat von Ryanair.

In McCreevys Fall erteilte das EU-Ethik-Gremium erstmals ein Jobverbot: Kurz nach seinem Ausscheiden als Kommissar wollte er einen Sitz im Aufsichtsrat der NBNK Investment Bank beziehen. Hier sah das Ethik-Komitee der Kommission die Gefahr eines Interessenkonfliktes mit seinem ehemaligen Amt als EU-Kommissar.

Angesichts dieser Liste an Job-Wechslern fordert Timo Lange, Sprecher des Vereins Lobbycontrol, im Gespräch mit SZ.de: "Es braucht mehr Verbindlichkeiten." Er spricht sich für eine Übergangszeit von drei Jahren aus, danach seien die Kontakte stärker abgekühlt. In dieser Zeit müsse Lobbyarbeit verboten werden. Nötig seien klare Definitionen, wann ein Interessenskonflikt existiert und welche Tätigkeiten darunter fallen.

Mit der Ethik-Kommission, die in Brüssel die Einhaltung der Regelungen überwachen soll, ist Lange unzufrieden: Bis vor kurzem amtierte mit Michel Petite ein Anwalt der Tabakindustrie als Vorsitzender. Zwar bestritt Petite eine Lobbyisten-Tätigkeit, Recherchen von Lobbycontrol und anderen NGOs stellten aber einen Zusammenhang zwischen Petite und einem Tabak-Lobbying-Skandal her. Für Lange steht fest: "Es ist ein Unding, dass so jemand unabhängige ethische Entscheidungen treffen soll."

Apropos Unabhängigkeit: Die Mitglieder des Ethik-Komitees bestimmt die Kommission. Dies kritisiert auch die CDU-Europaabgeordnete Inge Gräßle, die im Haushaltskontrollausschuss sitzt: "Über die Besetzung des Ethik-Gremiums könnte man sich die Haare raufen." Sie sagt zu SZ.de: "Leider bleibt der Verhaltenskodex und seine Umsetzung in den Händen derer, die sich an ihn halten sollen."

Sie klagt, dass es "keine Berichterstattung über die Umsetzung im Geschäftsjahr gibt. Alles, was dort passiert, ist im Wesentlichen nicht öffentlich." Zwar sei 2011 eine Website versprochen worden, um Transparenz herzustellen. Diese gebe es allerdings bis heute nicht.

Die verlängerte Karenzzeit hält Gräßle für "eine wichtige Neuerung". Auch der SPD-Abgeordnete Jens Geier findet sie ausreichend: Nach 18 Monaten sei weitgehend gewährleistet, dass ein ehemaliges Kommissionsmitglied "keine aktuellen Kenntnisse über laufende Gesetzgebungsverfahren hat, selbst bei langfristigen Dossiers", sagte er auf Anfrage von SZ.de.

Politiker in der Wirtschaft
:Seitensprünge zahlen sich aus

Als Entwicklungshilfeminister hat Dirk Niebel über Waffenexporte mitentschieden. Nach seiner Politiker-Laufbahn wird er Lobbyist beim Rüstungskonzern Rheinmetall. Der FDP-Mann setzt damit eine bemerkenswert lange Liste prominenter Seitenwechsler fort. Überblick in Bildern.

Der CDU-Parlamentarier Elmar Brok hingegen plädiert für die alte Brüsseler Regelung von einem Jahr: "Die Karenzzeit darf nicht ewig lange dauern. Wovon sollte er oder sie dann leben?", sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. Den Absturz in die Armut muss heute kein EU-Kommissar fürchten: Nach ihrem Ausscheiden haben sie alle drei Jahre lang Anspruch auf Übergangsgelder, die je nach Amtszeit zwischen 40 und 66 Prozent ihres ehemaligen monatlichen Grundgehalts liegen. Auch hierfür gibt es Gräßle zufolge im neuen Verhaltenskodex keine klaren Regeln, zum Beispiel für Ex-Kommissare, die ins Parlament wechseln und doppelt kassieren.

Jürgen Klute, der die Linkspartei im EU-Haushaltsausschuss vertritt, bezeichnet auf Anfrage von SZ.de die verschärften Regeln für EU-Kommissare als "überfälligen Schritt" und "großen Sprung nach vorne im Kampf gegen Korruption". Allerdings reicht ihm der Blick auf Kommissare und Minister nicht aus: "Hier braucht es eine deutliche Ausweitung, um Korruption wirklich vorzubeugen." Ähnlich sieht dies Jan Philipp Albrecht von den Grünen: Vor allem bei hohen Beamten in der Kommission bestehe das größte Risiko "für die Drehtür zwischen Politik und einflussreichen Interessensgruppen", sagt er der SZ.

Während sich Albrecht für eine dreijährige Karenzzeit ausspricht, hält der Linke-Politiker Klute eine Übergangsfrist von 24 Monaten für angemessen, "um das interne Wissen von Politikern und bis zu einem gewissen Grad auch die personellen Kontakte zu neutralisieren". Ebenso wichtig wie wirksame Regeln aber seien Klute zufolge "persönliches Problembewusstsein und die charakterliche Eignung für Führungsposten". Der Fall Pofalla zeige, "dass die von Merkel handverlesenen Vasallen eine solche Eignung offensichtlich nicht mitbringen".

Linktipps: Auch in der SZ-Redaktion ist Pofallas Absicht, Vorstand der Bahn zu werden, umstritten. Lesen Sie hier ein Pro und Contra zum Thema.

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