Vulkan Files:Hat der Westen die russischen Fähigkeiten im Cyberkrieg überschätzt? 

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Hält russische Desinformation in ihrer Wirkung für überschätzt: der US-Amerikaner Gavin Wilde. (Foto: Carnegie Endowment for International Peace)

US-Forscher Gavin Wilde glaubt nicht an einen Erfolg von Putins Desinformationskampagne. Und er erklärt, welche Katastrophenszenarien Experten für möglich halten.

Interview von Lena Kampf

SZ: Hat der Westen die russischen Fähigkeiten im Cyberkrieg überschätzt?

Gavin Wilde: Nicht so sehr Russlands Fähigkeiten wurden überschätzt, sondern aus meiner Sicht eher der Effekt von Cyberangriffen, wenn bereits Bomben fallen. In Zeiten relativen Friedens können Russlands Attacken katastrophal sein. Aber im Krieg fallen sie nicht mehr so auf. Und trotz der Vielzahl an Störungen ist bisher nicht erkennbar, dass damit militärische Ziele erreicht werden. Im Krieg wird eine Bombe immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, und das sehen wir gerade.

Dennoch sind Experten davon ausgegangen, dass Russland auch übers Netz zivile Infrastruktur angreifen und übernehmen würde, zum Beispiel die Steuerung von Atomkraftwerken. Das ist bisher noch nicht gelungen. Warum nicht?

Die Ukraine hat einen bemerkenswerten Grad an Verteidigungsfähigkeit und Resilienz gezeigt. Und es kann natürlich sein, dass die Worst-Case-Szenarien, vor denen gewarnt wurde, noch eintreten.

Wie sähen solche Szenarien aus?

Dass die Russen Züge entgleisen lassen oder, dass sie die Steuerung von Atomkraftwerken übernehmen. Aber ich frage mich, welches geopolitische Ziel Russland damit erreichen würde. Das wäre vielleicht kurzfristig ein Erfolg, aber würden diese Katastrophenszenarien letztlich etwas daran ändern, dass Russland geopolitisch gerade verliert? Und würden die Ukraine oder der Westen dadurch ihre Strategie wechseln?

Das heißt, es würde nicht zu Russlands Erfolg beitragen?

Es kommt darauf an, wie man Erfolg definiert. Wenn Erfolg nur bedeutet, noch mehr Chaos und Verwirrung zu stiften, dann vielleicht. Aber ich denke nicht, dass es das ist, was Russland erreichen will.

Sondern?

Die russische Führung ist davon überzeugt, dass Menschen und Gesellschaften allein anhand von Propaganda geformt und geführt werden können. Cyberangriffe und das Verbreiten von Propaganda dienen in den Augen des Kreml ein und demselben Zweck, dem Kampf um Informationsdominanz. Die angegriffene Zivilbevölkerung soll demoralisiert werden und es soll ein Keil zwischen sie und die politische Führung getrieben werden, insbesondere in der Ukraine. Aber die Russen gehen von Bedingungen aus, die so nicht mehr existieren. Von Erfahrungen, die sie in der Sowjetunion gemacht haben und in den 1990er-Jahren.

Was hat sich seitdem verändert?

Damals war die russische Gesellschaft und ihre Sicht auf die Welt sehr geprägt vom Fernsehen. Auch wenn sie versucht haben, die alten Taktiken auf die sozialen Medien zu übertragen, der Effekt ist begrenzt.

Warum könnten die russischen Propagandaaktionen ins Leere laufen?

Wenn man sich Russlands Doktrin und Strategien des Informationskriegs in den vergangenen Jahrzehnten anschaut, dann ist das große geopolitische Ziel, ganze Gesellschaften nach Moskaus Willen zurechtzubiegen. Natürlich können die Cyberangriffe zerstörerisch sein, die Frage ist aber, ob sie entscheidend sind.

Sie sagen, sie sind nicht entscheidend?

Ich bezweifle nicht, dass sie gewisse Auswirkungen haben. Aber es ist unklar, ob russische Propaganda tatsächlich Menschen beeinflusst oder eher bereits existierende Haltungen verstärkt. So sehr wir es auch moralisch befriedigend finden, Russlands Desinformationskampagnen zu enthüllen und zu kritisieren: Wir riskieren damit, Russlands Fähigkeiten größer zu machen, als sie tatsächlich sind. Es gibt neben diesen Kampagnen viele andere Faktoren, die eine Rolle spielen können. Im Fall der Ukraine zumindest ist es nach hinten losgegangen. Da haben Cyberangriffe und Propaganda die Gesellschaft zusammengeschweißt, obwohl Russland es darauf angelegt hatte, sie auseinander zu treiben.

Gavin Wilde ist Senior Fellow am Carnegie Endowment for International Peace, wo er zu Russlands Cyberkrieg forscht. 2018-2019 war er im Nationalen Sicherheitsrat der USA Direktor für Russland, das Baltikum und den Kaukasus.

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