Coronavirus:So unterschiedlich arbeiten die Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung

Berlin: Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Mitte mit Gesichtsschutzschirm telefonieren im Lagezentrum des Gesundheitsamt Mitte.

Mühsame Kontaktverfolgung: Der Name eines Infizierten wird von Gesundheitsämtern teilweise mehr als ein Dutzend Mal eingetragen

(Foto: Britta Pedersen/dpa/Britta Pedersen/dpa)

Die Zahl der durchschnittlich ermittelten Kontaktpersonen von Corona-Infizierten variiert in den Bundesländern stark. Da kann etwas nicht stimmen. Bei der Auskunft dazu mauert ausgerechnet Bayern.

Von Markus Grill und Kristiana Ludwig, Berlin

Bevor es das Coronavirus gab, lernten sich die Hamburger in der "Katze" kennen, eine ganze Reihe jedenfalls. In den Nächten herrschte in der schummrig beleuchteten Bar im Schanzenviertel Gedränge. Auch vor der Tür wurde es meist eng. Und seit Corona? Ist es dort offensichtlich nicht viel luftiger. Vergangene Woche veröffentlichte der Hamburger Senat einen eher hilflosen Aufruf: "Wer die Bar ,Katze' am 5., 8. oder 9. September jeweils ab 19 Uhr bzw. in den Nachtstunden" besucht habe, möge sich bitte melden. Denn dann stünde Quarantäne an.

Nachdem das Coronavirus bei mehreren Kellnern festgestellt wurde, sei man zu dem Schluss gekommen, dass sämtliche Kneipenbesucher als enge Kontaktpersonen gelten müssten - denn niemand könne mehr nachvollziehen, wie der "feucht-fröhliche" Abend verlaufen sei, sagte ein Senatssprecher. Auf den Gästelisten hätten etliche Besucher anstelle ihres Namens "Darth Vader" oder "Lucky Luke" notiert. Für Gesundheitsämter, die Kontaktpersonen finden sollen, ist so etwas ein großes Problem, nicht nur in Hamburg. Die Zahl der Infektionen steigt. Im August wurden bundesweit 34 000 Menschen positiv getestet, mehr als doppelt so viele wie im Juli.

Wie gut funktioniert also die Kontaktverfolgung in Deutschland? Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR haben alle mehr als 380 Gesundheitsämter danach gefragt. Während 152 Ämter detailliert antworteten, dass es bei ihnen überwiegend gut laufe, gaben einige Bundesländer überhaupt keine Informationen preis. Die Erhebung sagt also vor allem etwas darüber aus, was die Gesundheitsämter heute nicht wissen. Denn auf Basis ihrer Daten wird man kaum konstatieren können, dass Kontaktpersonen in ganz Deutschland mit der selben Sorgfalt ermittelt werden.

Zu groß erscheinen die Diskrepanzen zwischen den Daten der einzelnen Gesundheitsämter. Zu ungewiss ist der Umgang mit Menschen, die Covid-19 aus dem Ausland mitgebracht haben. Und das ganz abgesehen von dem Umstand, dass ausgerechnet das Bundesland mit einer der höchsten Zahlen an Infizierten und den meisten Todesfällen - Bayern - sich überhaupt nicht in die Karten schauen lassen will und Auskunft über den Stand der Nachverfolgung generell verweigert.

Fast zehn ermittelte Kontaktpersonen in Sachsen, nur 3,6 in Baden-Württemberg

Enge Kontaktpersonen sind nach den Kriterien des Robert-Koch-Instituts (RKI) grob gesagt alle, die einem Infizierten 15 Minuten lang näher als 1,5 Meter gekommen sind. Sie werden vorsorglich in Quarantäne geschickt. Wie viele solcher Kontaktpersonen jeder Infizierte im Durchschnitt hat, ist bisher nicht bekannt. Ältere Studien gehen von etwa acht solcher Begegnungen aus, doch das war lange vor Corona. Das RKI teilt auf Anfrage mit, ihm lägen zu dieser Frage keine Daten vor, auch nicht zum Erfolg der Nachverfolgung.

Aus den Antworten der 152 Gesundheitsämter auf die Anfrage von NDR, WDR und SZ ergibt sich nun, dass ein Corona-Infizierter im August im Schnitt 4,9 enge Kontaktpersonen gehabt hat. Allerdings unterscheiden sich die Zahlen von Bundesland zu Bundesland erheblich: Während Sachsen im Schnitt fast zehn Kontaktpersonen pro Infiziertem ermittelt hat, liegt der Wert in Baden-Württemberg bei 3,6. Noch größere Unterschiede findet man auf Landkreisebene: So hat das Gesundheitsamt des Landkreises Leipzig im August bei jedem Infizierten 25 enge Kontaktpersonen ermittelt und in Quarantäne geschickt, in Tübingen waren es hingegen lediglich 1,7 Kontaktpersonen pro Infiziertem.

Eine Erklärung für die niedrige Zahl hat der Vizechef des Tübinger Gesundheitsamts, Oliver Piehl, nicht. Vielleicht liege es an den Urlaubsrückkehrern im August, sagt er, die laut RKI einen großen Anteil an den Neuinfektionen hatten. Denn wenn Menschen frisch infiziert aus dem Ausland kommen, kontaktieren die deutschen Gesundheitsämter in der Regel nur ihre Kontaktpersonen im Inland.

Begegnungen im Ausland, sagte die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, müssten Behörden zwar an das Robert-Koch-Institut melden. Doch wie oft dies tatsächlich geschehen ist, und wie oft das RKI dann Behörden im Ausland kontaktiert hat, dazu erhebe man keine Daten, heißt es von dem Institut. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) räumte ein, dass der Austausch mit den europäischen Gesundheitsbehörden tatsächlich "mit sehr großem Aufwand verbunden" sei, weil "bei Einzelfällen daraus viel Arbeit erwachsen kann". Es bleibt also offen, wie oft die Kontaktverfolgung an der deutschen Grenze endet.

Was Kontakte nur in Deutschland betrifft, vermelden Gesundheitsämter dagegen überwiegend Erfolge. 85,2 Prozent der Gesundheitsämter gaben in ihren Antworten an, dass es ihnen im August gelungen sei, alle Kontaktpersonen tatsächlich zu erreichen. Weitere 13,4 Prozent gaben an, zu "fast allen" Kontakt aufgenommen zu haben. Demnach konnten fast 99 Prozent der Kontaktpersonen tatsächlich gefunden werden. Das ist, verglichen mit anderen Ländern, ein extrem hoher Wert. So hatte der britische Gesundheitsdienst NHS ein Drittel der Kontaktpersonen von Infizierten überhaupt nicht ermitteln können, wie die Zeitung Guardian berichtete. Und in Frankreich erklären sich Fachleute den hohen Anstieg der Infektionszahlen im Sommer auch damit, dass die Behörden Infektionsketten nicht mehr unterbrechen können.

Amtsärztin Teichert sagt, neben den Urlaubern und Kneipenbesuchern seien auch Flugpassagiere ein Problem. Immer wieder seien Aussteigekarten falsch oder lückenhaft ausgefüllt. Künftig sollen Bundespolizisten an den Flughäfen kontrollieren, ob der Name auf dem Pass mit dem auf der Karte übereinstimmt.

Letztlich sind die Behörden bei ihrer Suche aber vor allem auf das Gedächtnis der Menschen angewiesen. Im Zollernalbkreis im südlichen Baden-Württemberg zum Beispiel hat das Gesundheitsamt bei 68 von 95 Infizierten im August überhaupt keine enge Kontaktperson registriert. Amtsleiter Günter Gießler sagt, dass das auch daran liege, "dass wir in der Provinz mehr Flächen und weniger Verdichtungsräume haben als in der Großstadt". Es gebe viele ältere Menschen, die allein lebten, oder Familien, die sich gegenseitig infizierten und dann auch keine weiteren Kontaktpersonen haben. "Wir fragen die Menschen entsprechend den Kriterien des Robert-Koch-Instituts, aber wenn die sagen, wir haben keine Kontaktpersonen, dann müssen wir das am Ende auch glauben."

Auffallend niedrige Werte in Bayern

In Schleswig-Holstein, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben jeweils 60 Prozent der Gesundheitsämter die Umfrage beantwortet und ihre Daten mitgeteilt, in Baden-Württemberg waren es sogar 70 Prozent. In Hamburg, wo nach dem Vorfall in der "Katze" am vergangenen Wochenende Ordnungshüter durch das Nachtleben streiften, meldete die Gesundheitsbehörde Anfang September knapp, man habe im August sämtliche Kontaktpersonen der 860 infizierten Hamburger erreicht. Aber: "Zahlen dazu stehen in Gänze nicht zur Verfügung". Alle Kontaktpersonen zu zählen sei zu aufwendig.

In Bayern gaben lediglich zwei Gesundheitsämter ihre Werte preis - und die sind, mit 1,6 Kontaktpersonen im Schnitt, auffallend niedrig. Mehrere Ämter hatten mitgeteilt, die Anfrage würde zentral von der Landesregierung in München beantwortet. Doch hier weigerte man sich auf Nachfrage, entsprechende Daten zur Verfügung zu stellen. Bayerns Gesundheitsministerium mauert schon seit Monaten. So ging bereits am 30. März nach Informationen von NDR, WDR und SZ ein Schreiben aus dem Ministerium an die Ämter, in dem der Beamte Sebastian B. vom Referat 53 diese anwies, auf Presseanfragen nicht zu antworten. Auf Nachfrage teilt ein Sprecher mit: "Einen Maulkorberlass gibt und gab es nicht. Selbstverständlich können die Gesundheitsämter Presseanfragen in eigener Zuständigkeit beantworten." Das Ministerium bemühe sich "jedoch wo immer möglich um Entlastung".

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