Corona-Pandemie:Vorauseilender Ungehorsam

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Vorweihnachtszeit in der Schildergasse in Köln. (Foto: imago images/Olaf Döring)

Immer mehr Politiker fordern Verschärfungen der Maßnahmen noch vor Weihnachten. Doch die Menschen reagieren nicht - und das liegt auch an der ersten Welle.

Von Christina Berndt

Im Frühjahr war die Bevölkerung noch willig. Politiker mussten nur darüber sprechen, dass bald Beschränkungen wegen der Pandemie nötig sein würden - und schon hielten sich die Menschen an die noch gar nicht verfügten Maßnahmen. Sie reduzierten ihre Kontakte und blieben viel zu Hause, wie die Bewegungsdaten ihrer Handys zeigten. Der vorauseilende Gehorsam war so überwältigend, dass Skeptiker später mutmaßten, die damals frisch bekannt gemachte Reproduktionszahl R hätte gar nicht gesenkt werden müssen, weil sie schon vor der Einführung der Maßnahmen unter der kritischen Marke 1 gelegen habe.

Es sieht gerade nicht so aus, als würde sich dieser Effekt jetzt wiederholen. Seit Tagen diskutieren Politiker und Wissenschaftler darüber, was angesichts der kräftig ansteigenden Infektionszahlen zu tun sei, die am Freitag ihren bisherigen Höhepunkt mit fast 30 000 Neuinfektionen erreichten. Noch vor wenigen Wochen glaubten die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer den Bürgern opulente Weihnachts- und Silvesterfeierlichkeiten in täglich wechselnder Besetzung zugestehen zu können. Sogar die geballte Intelligenzia der Nationalakademie Leopoldina sprach sich noch am Dienstag für einen Lockdown erst nach den Weihnachtstagen aus.

Wenige Tage später stehen die Signale auf Strenge. Im Kräftemessen mit dem Weihnachtsmann scheint Knecht Ruprecht gerade die Oberhand zu gewinnen: Aus Berlin ist zu hören, dass in der für Sonntag anberaumten Sitzung von Kanzlerin und Landeschefs wohl strenge Maßnahmen noch vor Weihnachten beschlossen werden. Deutschland habe "die Kontrolle über die Pandemie verloren", sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und sprach sich für einen sofortigen "harten Lockdown" aus. Nichts sei "christlich daran, dass wir erst shoppen und feiern, bevor wir handeln". Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte am Freitag ebenso wie NRW-Landeschef Armin Laschet (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) einen baldigen strengen Lockdown. Selbigen hat Sachsen angesichts der exorbitanten Infektionszahlen im Land bereits ab Montag mit Geschäfts-, Schul- und sogar Kita-Schließungen verfügt.

Doch anders, als es die Kanzlerin mit ihrer ungewohnt emotionalen Rede vom Mittwoch erreichen wollte, geht diesmal kein Ruck durchs Land. Die Menschen halten nicht inne, sie scheinen angesichts der drohenden Maßnahmen eher noch aktiver zu werden. Die Idee vom Last-Minute-Geschenk hat angesichts des drohenden Lockdowns eine neue Dimension bekommen.

In Sachsen gab es zum Wochenende einen regelrechten Run auf die Innenstädte, vor allem vor Spielzeuggeschäften bildeten sich lange Schlangen. So könnten sich aus Ladentürschlusspanik in den kommenden Tagen noch mehr Menschen auf engem Raum drängen als zuletzt - zumal das dritte Adventswochenende alljährlich das umsatzstärkste ist. Die Kurve an Neuinfektionen könnte somit erst recht weiter nach oben schnellen.

Die Menschen sind der Regulierungen nach einem Dreivierteljahr Pandemie wohl überdrüssig, sagt die Gesundheitspsychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt. Womöglich entfaltet Weihnachten auch - bei aller wiederkehrenden Kritik am Fest des Familienzwists und Konsums - gerade seine besondere Kraft. Die Routinen bei diesem bedeutungs- und erinnerungsschwangeren Fest zu durchbrechen, fällt Menschen besonders schwer.

Vor allem aber sei das Hin und Her bei den Regeln Gift für die Disziplin, sagt Betsch: "Die Menschen brauchen einen festen Rahmen, an den sie sich halten und auf dessen Gültigkeit sie sich verlassen können. Das haben wir schon beim Masketragen gesehen. Als dies Pflicht wurde, ist es in einem kurzen Zeitraum stark angestiegen." Sich freiwillig in Verzicht oder Einschränkungen zu üben, sei dagegen für viele Menschen schwierig, "vor allem weil wir oft Ausnahmen machen, obwohl wir im Prinzip davon überzeugt sind, uns an Regeln zu halten". So hat der größte politische Fehler der vergangenen Wochen Betsch zufolge darin bestanden, den Menschen Lockerungen über Weihnachten und Silvester in Aussicht zu stellen, ohne diese an klare Bedingungen zu knüpfen. Dass sie nun wohl zurückgenommen werden, erhöhe die Gegenwehr. "Dass die Menschen hier empfindlich sind, hatte sich schon früh in Studien gezeigt", so Betsch.

Offenbar erkennen viele Menschen auch den Ernst der Lage nicht. "Während der ersten Welle hatten die Menschen furchtbar viel Angst, weil sie die Erkrankung nicht kannten. Die meisten haben den Kopf freiwillig eingezogen", sagt Peter Falkai, der Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Aber dann war die Welle eben wegen dieser Reaktion gar nicht so dramatisch - und jetzt sind viele Menschen abgestumpft.

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