Südamerika:Chiles linke Regierung erleidet Niederlage

Lesezeit: 3 min

Die Chilenen haben ihrem linken Präsidenten einen Denkzettel verpasst: Gabriel Boric (M.) am Sonntagabend nach der Wahl eines neuen Verfassungsrats. (Foto: Andres Poblete/AP)

Chile soll eine neue Verfassung bekommen. Bei der Wahl des Rats, der diese schreibt, erringen Konservative und Rechte die Mehrheit. Präsident Gabriel Boric fordert seine Gegner zu "Weisheit und Mäßigung" auf.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Eigentlich war es nur ein kleines Missgeschick: Am Wochenende war Präsident Gabriel Boric in seine Heimatstadt Punta Arenas ganz im Süden von Chile gereist. Auf einem Spielplatz kletterte er in eine Rutsche, doch weil sie für Kinder und nicht für Erwachsene gebaut war, blieb der 37-Jährige stecken. Ein Video landete im Netz und verbreitete sich rasend schnell. Einerseits, weil es doch recht lustig aussah, wie der Staatschef des südamerikanischen Landes sich aus dem Spielgerät kämpfen musste. Andererseits, weil viele Chilenen in der Szene Parallelen erkennen zu der linken Regierung, die Boric seit rund einem Jahr anführt: zunächst mit viel Schwung, dann aber mit immer größeren Problemen und Fehltritten. Die Popularität des bärtigen einstigen Studentenführers sinkt, die Kritik wächst.

Nun hat Chile am Sonntag auch noch eine neue verfassungsgebende Versammlung gewählt. Es ist bereits die zweite nach dem krachenden Scheitern eines ersten Entwurfs im vergangenen September - und das Ergebnis könnte für die Regierung nicht verheerender sein: Nur 17 Kandidaten der Linken bekamen einen Platz, ein weiterer geht an einen Vertreter einer indigenen Minderheit. Die restlichen 33 Sitze haben konservative Parteien und solche vom rechten Rand errungen. Sie verfügen nun über eine so große Mehrheit, dass sie auch gegen den Widerstand linker Gruppierungen Artikel in den Entwurf einer neuen Verfassung einbringen können.

Sieger ist der ultrakonservative José Antonio Kast

José Antonio Kast, der mit seiner ultrakonservativen Partei Partido Republicano die meisten Stimmen gewinnen konnte, sprach am Sonntag von einem "Triumph": Das Wahlergebnis sei "ein klares Signal für den Kurs, den die Chilenen sich für ihr Land wünschen", sagte Kast. Präsident Boric betonte dagegen, das chilenische Volk habe "auf demokratische Weise seinen Standpunkt zum Ausdruck gebracht". Er forderte die Mitglieder des neuen Verfassungsrats auf, "mit Weisheit und Mäßigung zu handeln, um einen Text zu verfassen, der die große Mehrheit des Landes berücksichtigt".

Das Ergebnis der Wahlen unterstreicht die politische Kehrtwende in Chile. 2019 brachen Massenproteste aus, Hunderttausende demonstrierten für mehr soziale Gerechtigkeit und gegen ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das einer kleinen Schicht großen Wohlstand gebracht und immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt hatte. Zu den Kernforderungen der Proteste zählte eine neue Verfassung. Nach monatelangen, teils heftigen Demonstrationen setzte die damalige konservative Regierung ein Referendum an, bei dem sich eine große Mehrheit der Wähler für eine neue Verfassung aussprach.

Als dann im Dezember 2021 auch noch Gabriel Boric, Kandidat der linken Convergencia Social, die Präsidentschaftswahlen gewann, hofften viele, vor allem junge Chilenen auf eine Zeitenwende in ihrer südamerikanischen Heimat.

Der letzte Verfassungsentwurf war vielen Chilenen zu fortschrittlich

Doch schon kurz nach Amtsantritt im März vergangenen Jahres kamen der neuen Regierung Chiles Konflikte in die Quere. Im Süden dringen radikale Vertreter der indigenen Minderheit der Mapuche auf eine eigene, unabhängige Nation und schrecken dabei auch vor Gewalt nicht zurück. Im Norden des Landes treten verstärkt Probleme auf, weil sich die Bevölkerung angesichts einer Vielzahl von Einwanderern, vor allem aus Haiti und Venezuela, alleingelassen fühlt. Gewalt und Kriminalität nehmen zu, vor allem in der Hauptstadt Santiago, außerdem schwächelt die Wirtschaft. Immer mehr Chilenen wünschen sich deshalb eine Politik der harten Hand, wie sie etwa José Antonio Kast verspricht, der mit seiner extrem rechten Partido Republicano zu den Wahlgewinnern zählt.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung hatte ein damals noch von linken Gruppen und unabhängigen Kandidaten dominierter Rat vorgelegt. Er zielte auf grundlegende Neuerungen in Chile ab: Frauen- und Minderheitenrechte sollten ebenso gestärkt werden wie Umweltschutz und Sozialstaat. Vielen Chilenen gingen die Vorschläge zu weit, eine große Mehrheit lehnte den Entwurf ab. "Der vorherige Versuch ist unter anderem deshalb gescheitert, weil wir nicht in der Lage waren, auf Andersdenkende zu hören", sagte Boric am Sonntagabend.

Nun also ein neuer Anlauf, aber mit einer starken Mehrheit von konservativen und rechten Parteien. Das Gremium wird an einem Entwurf weiterarbeiten, den 24 vom Kongress berufene Experten verfasst haben. Vier Monate lang kann es von Juni an Artikel billigen oder ändern. Dann sind die Wähler gefragt: Sie werden am 17. Dezember entscheiden, ob sie die neue Verfassung unterstützen oder ablehnen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Untersuchung zum Tod von Pablo Neruda
:Wie starb Pablo Neruda?

Neue Untersuchungen erhärten den Verdacht, dass der Nobelpreisträger vergiftet worden sein könnte, beweisen aber nichts.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: