Krieg in der Ukraine:Dokumente des Schreckens aus Butscha

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Der ukrainische Präsident bei seinem Besuch in Butscha Anfang April. (Foto: Ronaldo Schemidt/AFP)

Die "New York Times" hat Videos und andere Quellen aus dem Vorort von Kiew ausgewertet. Sie machen es jetzt offenbar möglich, die mutmaßlichen Kriegsverbrechen einem Regiment der russischen Armee zuzuordnen.

Von Nicolas Freund

Es gibt Bilder, es gibt Videos, es gibt Zeugen und es gibt Dokumente, die belegen, was in Butscha passiert ist. Der Vorort von Kiew ist nach dem Rückzug der russischen Truppen im Frühjahr zu einer Art bewohntem Mahnmal für Kriegsverbrechen geworden, die mutmaßlich unter der Besatzung verübt wurden. Mehr als 450 Tote sollen alleine hier geborgen worden sein, mehr als 400 davon mit Anzeichen von Folter oder Schusswunden, wie nach einer Hinrichtung. Manche sind auch erschlagen worden.

Die entsetzten Gesichter der Politiker, die seitdem Butscha besucht haben - darunter der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, Außenministerin Annalena Baerbock und der UN-Generalsekretär António Guterres -, sind gut dokumentiert. Konfrontiert mit dem Vorwurf, seine Truppen begingen Kriegsverbrechen, sprach der russische Präsident Wladimir Putin nur von einer "Provokation", russische Soldaten hätten mit den Verbrechen von Butscha nichts zu tun, behauptete er.

Eine ausführliche Recherche der New York Times (NYT) hat nun eine Vielzahl von Quellen aus Butscha ausgewertet und kommt zu dem Schluss, dass russische Truppen an den Verbrechen beteiligt waren, nämlich das 234. Fallschirmjäger-Regiment der russischen Armee. Die in Butscha eingesetzten Fahrzeuge konnten dem Regiment zugeordnet werden, obwohl von den russischen Truppen teilweise versucht wurde, ihre Insignien unkenntlich zu machen. Sogar einzelne Soldaten und Kommandanten, die auf Videos aus Butscha zu sehen sind, wollen die amerikanischen Journalisten namentlich identifiziert haben.

Verräterische Mobilfunk-Daten

Dazu wurden unter anderem Anrufe zurückverfolgt, die von Mobiltelefonen Ermordeter nach Russland gingen, teilweise nur Stunden nach ihrem vermutlichen Tod. Dazu benutzen die Journalisten Daten, die ihnen von ukrainischen Behörden zur Verfügung gestellt worden sind. Einzelne Handys wurden wohl unter den russischen Besatzern herumgereicht und für mehrere Anrufe genutzt. Die Nutzung von Smartphones unterliegt in der russischen Armee sehr strengen Regeln, weshalb viele Soldaten wohl keine eigenen Geräte in der Ukraine bei sich trugen.

Die Journalisten der NYT haben außerdem mithilfe von Drohnenaufnahmen der ukrainischen Armee, Fotos, Zeugenaussagen und Videos, die von Bewohnern Butschas während der Besatzung sowie von Überwachungskameras aufgenommen worden waren, mehrere Morde und womöglich auch Hinrichtungen an Zivilisten dokumentiert. In manchen Fällen, wie einer berichteten Erschießung mehrerer Mitglieder der ukrainischen Regionalverteidigung, die sich den russischen Truppen ergeben hatten, belegen gleich mehrere Videos und Fotos, wie die Männer erst abgeführt werden und später ihre Leichen hinter einem Haus zu erkennen sind.

Diese Aufnahmen liefern keine eindeutigen Beweise, aber viele Indizien, die auf Kriegsverbrechen der russischen Armee in Butscha hinweisen. Abgehörte Gespräche sollen laut der NYT-Recherche außerdem belegen, dass die Verbrechen systematisch verübt und von Befehlshabern angeordnet wurden. Daran, dass in Butscha Kriegsverbrechen von russischen Truppen verübt wurden, gab es keinen ernsthaften Zweifel. Bereits im Sommer hatten die Vereinten Nationen dokumentiert, dass in dem Vorort Zivilisten von russischen Soldaten ermordet worden waren.

Es ist gut möglich, dass die Erkenntnisse dieser neuen Recherche aber einen wichtigen Beitrag zu den derzeit laufenden, internationalen Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen im Krieg in der Ukraine leisten - besonders, weil es den Journalisten gelungen ist, die Morde einem Regiment zuzuordnen und einzelne Soldaten zu identifizieren. Es ist allerdings auch davon auszugehen, dass die bisher dokumentierten Verbrechen von Butscha nur einen Bruchteil der von russischen Truppen in der Ukraine verübten Gräueltaten sind.

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Am selben Tag wie die NYT veröffentlichte die Nachrichtenagentur AP eine Analyse von Drohnen- und Satellitenaufnahmen der Hafenstadt Mariupol, die nach einer wochenlangen Belagerung und blutigen Straßenkämpfen im Mai von Russland besetzt worden war. Zuvor hatte die russische Armee große Teile der Stadt mit Luftangriffen und Artillerie zerstört. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen in Mariupol getötet wurden. Es kursieren Zahlen von bis zu 100 000, die aber vermutlich zu hoch sind, selbst wenn man die getöteten Soldaten auf beiden Seiten und die zivilen Opfer addiert.

Schätzungen ukrainischer Behörden gingen damals von 20 000 getöteten Einwohnern aus. Die Analyse von AP zeigt nun, dass bis Dezember geschätzte 10 000 weitere Gräber ausgehoben wurden. Diese Zahlen könnten einen Hinweis auf die Opfer der Belagerung geben, die wohl noch immer aus den Ruinen der Stadt geborgen werden. Berichten zufolge reißen die russischen Besatzer große Teile der Stadt ab - darunter auch die Überreste des Theaters, in dem sich Hunderte Zivilisten vor den russischen Angriffen versteckt haben sollen, als es im März von einer russischen Fliegerbombe zerstört wurde.

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