Bundestagswahl:Das Ende der alten Bundesrepublik

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Die Wahl am Sonntag markiert mehr als einen normalen Generationswechsel im Berliner Parlament: Die Ära der Achtundsechziger ist vorbei

Peter Fahrenholz

Die Kisten im Büro des CSU-Abgeordneten Eduard Lintner sind zum Teil schon gepackt. "Ich bin eigentlich ganz gelassen", sagt der Politiker. Er wird dem neuen Bundestag nicht mehr angehören, nach 33 Jahren. So wie viele andere Kollegen auch. Generationswechsel gehören zur Politik. Dass Ältere aufhören und Jüngere nachrücken, hat es immer gegeben. Doch dieses Mal ist es ein besonderer Einschnitt. Die Generation "65 plus" hört in großer Zahl auf. Es sind die Leute, die in den Zeiten der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre politisiert wurden, manche noch ein paar Jahre früher. Man könnte auch sagen: Es ist die alte Bundesrepublik, die abtritt.

Die SPD-Politikerin Herta Däubler-Gmelin gehörte dem Parlament bereits seit 1972 an. Nun ist für Däubler-Gmelin Schluss. (Foto: Foto: dpa)

Die politischen Biographien ihrer Protagonisten zeigen, welch weiten Weg das Land seither zurückgelegt hat. Und wie sehr sich auch sowohl die Arbeitsbedingungen als auch das Selbstverständnis der Abgeordneten seither gewandelt hat.

Als Herta Däubler-Gmelin 1972 mit 29 Jahren in den Bundestag kam, ging es bei vielen noch ums große Ganze. "Da wollte man Deutschland und auch ein bisschen die Welt verändern". Die ehemalige Justizministerin war während ihres Studiums in Berlin "heftig bei der Studentenbewegung aktiv". Ende der 60er Jahre hat sie nicht im Traum an ein politisches Mandat gedacht. Als sie ins Parlament kam, wurde sie dort keineswegs mit offenen Armen aufgenommen. "Wir wurden natürlich angefeindet", sagt sie, "diese Gruppe von aufmüpfigen Frauen, das hatte man in der SPD-Fraktion nicht so gern." Dort gaben damals die so genannten Kanalarbeiter den Ton an.

So, wie es die von der Studentenbewegung inspirierten Reform-Enthusiasten gab, die das ganze Land verändern wollten, gab es auch die "Anti-68er", die genau das verhindern wollten. So wie Eduard Lintner. "Die Radikalisierung der 68er hat mir die Politik geradezu aufgezwungen", sagt Lintner. Er war in der Studentenvertretung der Uni Würzburg aktiv, auf der anderen Seite gewissermaßen. Mit dem allgemeinen politischen Mandat, das die linken Studenten verlangten, konnte er nichts anfangen, er kämpfte für konkrete Veränderungen an seiner Universität.

Die "linken Frommen"

Auch SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler engagierte sich während seines Studiums in Bonn Ende der 60er Jahre in der Studentenbewegung, allerdings von einer ganz anderen Richtung her. Er war bei den Katholiken aktiv, die als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils einen starken Linksdrall gehabt hatten. Die "linken Frommen" habe man sie genannt, erzählt Stiegler, der als Schüler zuerst in der Jungen Union aktiv war.

Als er in der Schule einen Vortrag über die Geschichte der Arbeiterbewegung halten sollte, hat ihn die Rede von Otto Wels bei der Machtergreifung der Nazis sozusagen umgepolt. "Ich habe mich in die SPD hineingelesen", sagt Stiegler. Der CDU-Politiker Peter Rauen hingegen hatte damals "überhaupt kein Verständnis für die 68er". Rauen hatte sich schon als 21-Jähriger selbständig gemacht, leitete einen mittelständischen Betrieb. Unter Unternehmern sei es verpönt gewesen, sich politisch zu engagieren. 1969 ist Rauen in die CDU eingetreten. "Entscheiden tut nur der, der sich einbringt", sagt er.

Die dominierenden Figuren von damals prägten die jungen Abgeordneten viel stärker als heute, und zwar ganz egal, ob sie die Welt verändern wollten oder nicht. Die Leute, die Partei oder Fraktion führten, seien "respekteinflößend" gewesen, erinnert sich Däubler-Gmelin. Zu Herbert Wehner, dem damaligen SPD-Fraktionschef sei man mit weichen Knien gegangen. Für Stiegler war Wehner "wie ein Vater", ein strenger allerdings, Däubler verehrte eher Männer wie Willy Brandt oder Egon Bahr. Für Lintner war Adenauer das große Idol, und Rauen macht kein Hehl aus seiner Verehrung für Helmut Kohl.

Scheidende Abgeordnete
:Wissen, wann man gehen muss

Nach den SPD-Veteranen Schily, Stiegler und Eichel haben nun auch Renate Schmidt und Walter Riester ihren Rückzug aus der Politik angekündigt.

Die deutsche Einheit 1990 war für das ganze Land eine historische Zäsur, am deutlichsten bekamen es aber wohl die Abgeordneten im Bonner Parlament zu spüren. Da waren plötzlich neue Kollegen mit ganz anderen Biographien. Und es ist schon die Frage, ob es die arrivierten Vertreter der alten Bundesrepublik diesen neuen Kollegen nicht etwas leichter hätten machen können, das "Andere", das sie verkörperten, etwas ernster hätten nehmen müssen. Selbst Männer wie Eduard Lintner, für den die Wiedervereinigung das "schönste Erlebnis" in seinem politischen Leben gewesen ist, fanden die Ossis "gewöhnungsbedürftig". Lintner stimmte damals für Bonn und gegen Berlin als Hauptstadt, "da schäme ich mich heute ein bisschen dafür", gesteht er. Auch Stiegler räumt ein, man habe sich "schon gewöhnen müssen". "Das war, wie ein neues Land kennenzulernen".

"Die Parlamentarier sind viel selbstbewusster geworden"

Mit den Motiven, in die Politik zu gehen, haben sich auch die Abgeordneten geändert. "Leuten wie mir ging es um bestimmte Sachen", sagt Herta Däubler-Gmelin. Mehr Rechte für Frauen, Umgang mit Minderheiten, die Lehren aus der deutschen Geschichte, solche Sachen. Heute würden doch viele Jung-Politiker "schon im dunklen Anzug geboren", spottet sie. Auch Rauen findet, es gebe "mehr Karrieredenken", vielen Kollegen fehle der Mut, ihre Meinung zu sagen, weil sie noch etwas werden wollten.

Gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten für den einzelnen Abgeordneten fundamental verbessert. Früher stand er dem Herrschaftswissen der Exekutive weitgehend machtlos gegenüber, professionelle Zuarbeit gab es so gut wie nicht. Die einzige Möglichkeit, sich zu behaupten, war enormer Fleiß. "Das hat bedeutet, dass man unheimlich viel gelesen hat", sagt Däubler. Heute haben die Abgeordneten Mitarbeiter, können auf die Expertisen des wissenschaftlichen Dienstes zurückgreifen. "Die Parlamentarier sind viel selbstbewusster geworden", sagt Stiegler, eine Fraktion zu führen viel schwieriger als früher. "Der Wehner konnte die noch zusammenbrüllen", das funktioniere heute nicht mehr.

Doch zugleich ist die politische Debatte oberflächlicher geworden. Statt um Diskurs geht es oft nur noch um Infotainment. Die "Lust am Skandalisieren" präge die Politik immer mehr, "es ist wie in der Spätphase der römischen Republik", beklagt Stiegler. Hinzu kommt die technische Revolution. Auch viele Abgeordnete geben inzwischen über das Internet ihre persönlichen Befindlichkeiten preis. Stiegler dürfte einer der wenigen Parlamentarier sein, der bis heute keine eigene Website hat. Um via Twitter mitzuteilen, "dass mich jetzt gerade ein Furz gebläht hat", käme ihm nie in den Sinn.

Däubler war Ministerin, Lintner hat es in der Ära Kohl bis zum Staatssekretär im Innenministerium gebracht. Der Mittelständler Rauen hätte es vielleicht ins Kabinett geschafft, wenn Edmund Stoiber 2002 die Wahl gewonnen hätte. Nur Stiegler hat es nie in die erste Reihe gedrängt, ihm habe immer gereicht, den Zugang dorthin zu haben. Wie hört man auf, nach Jahrzehnten in der Politik? Kisten packen, und das wars dann? Bei den meisten nicht. Rauen hat für sein Leben nach dem Bundestag eine Dreiteilung geplant: "Ein Drittel Freizeit, ein Drittel Familie, ein Drittel noch was tun". Lintner will ein Büro in Berlin einrichten und sich dort um die Beziehungen zu Aserbaidschan kümmern, er hat seit Jahren enge Kontakte zu dem Land geknüpft. Däubler-Gmelin engagiert sich auf dem Gebiet der Rechtspolitik, demnächst steht eine Konferenz in Vietnam über das deutsche Rechtssystem an. Nur Ludwig Stiegler, der immer ein politischer Raufbold war, hat "eigentlich gar keine Pläne". Er liest gerade die Ilias vom Homer, im Original mit Übersetzungshilfe. Und will in seinem Garten "den Schmetterlingen zuschauen".

© SZ vom 22.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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