Bundestagsabgeordnete:Der harte Schnitt

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Ein neues Leben ohne Macht: 187 Bundestagsabgeordnete müssen ihre Büros in Berlin räumen - wie die Sozialdemokratin Monika Griefahn. Politikern fällt Scheiden besonders schwer.

V. Bernau

Am schwierigsten ist es, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Was ist so wichtig, dass es erhalten bleiben soll aus elf Jahren parlamentarischer Arbeit? Die Frage stellt sich Monika Griefahn immer dann, wenn sie einen weiteren Aktenordner zur Hand nimmt.

Monika Griefahn saß elf Jahr für die SPD im Bundestag. Weil sie ihr Direktmandat verlor, muss sie sich jetzt nach einer neuen Aufgabe umsehen. (Foto: Archivfoto: AP)

Vor gut vier Wochen hat die SPD-Politikerin ihren Wahlkreis Harburg verloren - und damit das Büro 353 in der ersten Etage des Jakob-Kaiser-Hauses: 50 Quadratmeter, roter Teppichboden, 18 Aktenschränke. Direkt neben der Tür zum Büro stehen zwei Säcke, die ihr bis zur Hüfte reichen. Da landet das Unwichtige.

Wenn die voll sind, kommt jemand von der Bundestagsverwaltung und schafft die Säcke in den Keller. Dort landet das Unwichtige vorübergehend in zwölf telefonzellengroßen Containern. Wenn auch die voll sind, werden sie zu einer Schredderanlage transportiert. Fast täglich kommen derzeit allein aus Büro 353 zwei gefüllte Säcke in den Keller. Aber insgesamt müssen 187 Abgeordnete bis Ende Oktober in ihren Büros das Wichtige vom Unwichtigen trennen.

Monika Griefahn sagt, sie neige dazu, die Berichte und Briefe aus den Schränken in die Säcke zu werfen. Eine Art Befreiung sei das, Ballast loszuwerden, ehe sie etwas Neues anfangen kann - auch wenn sie noch nicht dazu gekommen ist, darüber nachzudenken, was das sein wird.

Letztes Geleit vom Sicherheitsdienst

Ab und an aber sichert sie die Akten. Die Unterlagen zur Einführung einer Quote für deutsche Musik im Radio wird sie ans Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn geben. Und die Unterlagen zum Atommüllager Asse, noch aus ihrer Zeit als Umweltministerin in Niedersachsen, wird sie mit in ihr Backsteinhaus in Buchholz nehmen. Ein Untersuchungsausschuss zur Asse steht noch aus. Dass er ohne die Abgeordnete Griefahn stattfinden wird, das ist ihr in dem Moment, als sie die Akten zu den wichtigen legt, vielleicht gar nicht bewusst. Doch wenn zu viel wichtig wird, bekommt sie ein Problem: Ihr Haus in der Lüneburger Heide hat keinen Keller.

Es soll schon Abgeordnete gegeben haben, die ihr Büro erst verlassen wollten, nachdem der Sicherheitsdienst angerückt war. Wer nicht von der Politik lassen kann, der kann auch nicht vom Schreibtisch eines Abgeordnetenbüros lassen. Griefahn sagt, sie habe stets stärker an Erinnerungen als an Dingen gehangen.

Ihr werden Momente fehlen wie jener, als sie eine deutsche Schule in Kabul eröffnen durfte. Aber nicht die zwei goldenen Schalen, die sie von einer indischen Delegation überreicht bekommen hat und die nun neben drei gerahmten Bildern und einer Trachtenpuppe auf dem schwarzen Ledersofa stehen, ehe sie im Fundus des Bundestages landen und eines Tages versteigert werden.

In dieser Woche kommen die Handwerker: zunächst die Techniker, um die Computer abzuklemmen; dann die Maler, um die Wände zu streichen. Der rote Teppichboden aber, vom Architekten vorgesehen, wird bleiben, auch wenn ein Gelber das Büro bezieht.

Stephan Thomae zum Beispiel. Noch sitzt der 41 Jahre alte FDP-Politiker im zweiten Stock eines grauen Neubaus, Unter den Linden 50. Es ist eigentlich das Büro des Liberalen Rainer Stinner. Aber weil die Räume zwischen der um ein Drittel geschrumpften SPD-Fraktion und der ebenso stark gewachsenen FDP-Fraktion erst in zwei Monaten verteilt sind, ist Thomae, der Neue, vorübergehend bei Stinner, dem Erfahreneren, untergekommen.

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Bislang war Thomae ohnehin nur einige Tage in Berlin: Gespräche in der Landesgruppe, Fraktionssitzungen, Post durchsehen. Seine Akten sind noch überschaubar. In vier Stapeln, wenige Zentimeter hoch, liegen sie auf dem Schreibtisch. Vor allem Glückwunschkarten oder Einladungen - wie die zum parlamentarischen Abend des Bundesverbands der Fenster- und Fassadenhersteller. Thomae hat an der Deutsch-Indischen Handelskammer in Kalkutta gearbeitet und als Anwalt in Kempten. Mit Fenster- und Fassadenherstellern hatte er noch nie zu tun.

Nach der Bundestagswahl müssen viele Abgeordnete ihren Sitz räumen. (Foto: Foto: AP)

Auch deshalb ist es hilfreich, dass er in einem Büro sitzt, in dem man sich auskennt. Stinners Sekretärinnen wissen, welche Einladungen wichtig sind - und dass es die der Fenster- und Fassadenhersteller eher nicht ist.

Lobbyisten brauchen Entscheider

Während Stephan Thomae seinen Platz in Berlin sucht, sucht Monika Griefahn ihren in Buchholz. Ihre Tochter, 13 Jahre alt, hat bereits gesagt, sie solle nur nicht zu Hause hocken und die Hausaufgaben kontrollieren.

Zuletzt war Griefahn Sprecherin für Kultur und Medien sowie für auswärtige Kultur. Sie hat gute Kontakte zu Stiftungen, Vereinen, Kommissionen. Auf der Adressliste für ihre Weihnachtspost stehen 350 Leute. Doch die 55-Jährige weiß, dass im kulturellen Bereich ehrenamtliches Engagement am meisten geschätzt wird. Selbst die SPD-Abgeordneten, die sich mit allen Aspekten des Arbeitsrechts auskennen, werden nicht so leicht wie noch vor vier Jahren bei einer Gewerkschaft unterkommen. Wissen besitzen Lobbyisten bereits. Was sie brauchen, sind Kontakte zu denen, die entscheiden. Die SPD entscheidet nicht mehr.

Arbeitsagentur im Bundestag

Einige ihrer sechs Mitarbeiter, drei im Bundestag, drei im Wahlkreis, weiß Monika Griefahn bereits untergebracht: Einer wird seine Prüfungen an der Universität absolvieren, eine andere ein paar mehr Schichten bei einer Nachrichtenagentur übernehmen, die sie bisher nebenbei gemacht hat. Wie es für ihre Sekretärin weitergeht, weiß sie noch nicht.

Anfang Oktober war die Arbeitsagentur für einen Tag lang zu Beratungen im Bundestag. Der Andrang war groß. Aber diejenigen, die den Abgeordneten in ihren Wahlkreisbüros zugearbeitet haben, waren nur vereinzelt dabei. Aus manchen Winkeln der Republik ist der Weg in die Hauptstadt weit.

Dabei ist es für jemanden, der bislang mit Politik zu tun hatte, in Buchholz weitaus schwerer, einen neuen Job zu finden als in Berlin. Etwa 4500 Angestellte haben die deutschen Bundestagsabgeordneten. Und keiner von ihnen hat einen Vertrag, der länger gilt als die vier Jahre einer Legislaturperiode.

Zwei Daumen breit ist der Stapel mit Lebensläufen der wissenschaftlichen Mitarbeiter von SPD-Abgeordneten, die sich nun nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen. Viele Soziologen, Politologen und Juristen, nach denen nur wenige Arbeitgeber verlangen, und die meist auch gar nicht wissen, was die eigentlich können. Der Stapel mit Lebensläufen der Sekretärinnen ist nicht mal halb so hoch. Die wissen, auf welchem Weg sie die Kosten für eine Dienstreise beantragen müssen - und auf welchem Weg es vielleicht sogar noch etwas schneller geht.

Ungefragte Bewerbungen

Als Stephan Thomae neulich nach Berlin gekommen ist, hat er den Präsidenten der Hochschule Kempten im Flieger getroffen. Erst wollte er ihm anbieten, ihn mit dem Fahrdienst mit in die Stadt zu nehmen. Aber dann hat er es doch nicht gemacht, weil er nicht wusste, ob das vielleicht gegen eine Vorschrift verstößt.

Es wäre dumm gewesen, die Abgeordnetenlaufbahn mit einer Dienstwagenaffäre zu beginnen. Wegen solchen Dingen will Thomae in Berlin einen Büroleiter, der sich auskennt im Bundestag. 40 Bewerbungen für den Posten hat er zugeschickt bekommen. Ungefragt und teils schon, bevor er sein Mandat hatte. Es waren auch einige dabei, die zuvor für einen SPD-Abgeordneten gearbeitet hatten.

Doch längst nicht alle der Neuen schätzen die Expertise der Erfahrenen. Es gab schon Abgeordnete, die sich bei der bundestagsinternen Jobbörse ausdrücklich nach Mitarbeitern mit wenig Erfahrung erkundigten. Weil sie in ihren Büros der Alleswissende und der Allesbesserwissende sein wollen. Oder weil sie misstrauisch waren, dass eine Sekretärin, die viele kennt, vieles ausplaudern könnte.

Oftmals sind das die Abgeordneten, die die dümmsten Fehler machen. Anfängerfehler. Der falschen Zeitung ein Interview geben, weil der Drang so groß wird, etwas zu verkünden. Am schwierigsten ist es, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Auch für die Abgeordneten, die in den Bundestag einziehen.

© SZ vom 27.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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