Die Frau der Stunde heißt Marija Gabriel. Gefragt ist sie nicht nur in Brüssel, wo sie die bulgarische EU-Kommissarin für Forschung, Kultur und Jugend ist, sondern auch in Sofia. Denn Gabriel soll, wenn es nach dem Chef der Gerb-Partei, Bojko Borrisow, geht, die neue Premierministerin des Landes werden. Endlich, könnte man sagen, denn Bulgarien wird seit Längerem von Kabinetten regiert, die der Präsident eingesetzt hat, weil sich keine regierungsfähige Mehrheit im Parlament fand. Kann Borissow seine Überraschungskandidatin im Parlament durchsetzen, wäre damit ein längeres Interregnum in Sofia zu Ende.
Nun soll es also Gabriel richten, die seit 2019 Vizepräsidentin der Europäischen Volkspartei und seit 2017 EU-Kommissarin ist. Eine Reise nach Japan, wo derzeit nacheinander zwei G-7-Gipfel zu Technik und Bildung stattfinden, trat Gabriel nicht an. Sie reiste stattdessen nach Sofia, um mit den Vorsitzenden mehrerer im Parlament vertretenen Parteien über ihre Kandidatur zu verhandeln.
Borissow werden Verstrickungen in mafiose Strukturen vorgeworfen
Borissow, der selbst über viele Jahre Premierminister Bulgariens war, hatte für die Konservativen Anfang April, bei der mittlerweile fünften Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren, eine knappe Mehrheit erlangt, seine Gerb-Partei lag mit 26 Prozent nur knapp vor dem liberalen Reformbündnis "Wir setzen den Wandel fort" und "Demokratisches Bulgarien" (PP/DB). Mehr als einen Monat lang hatte es so ausgesehen, als ob das Land auf eine sechste Wahl im Herbst zusteuern würde, weil niemand mit Borissow koalieren wollte, schon gar nicht die neuen, proeuropäischen Kräfte, die ihm tiefste Verstrickung in mafiose Strukturen vorwerfen.
Aber Präsident Rumen Radew hat angekündigt, er werde Gerb das Mandat zur Regierungsbildung geben, und Borissow will nun offenbar eine Koalition mit der Partei der türkischen Minderheit (DPS) und den Sozialisten schmieden. Als Joker hat er dafür die Europapolitikerin aus dem Hut gezaubert. Erste Reaktionen aus Brüssel und Sofia sind freundlich. "Wir begrüßen die Nominierung von Marija Gabriel zur Premierministerin Bulgariens. Sie hat die Erfahrung und die internationale Autorität, die politische Stagnation in Sofia zu überwinden", twitterte etwa EVP-Chef Manfred Weber. Und Galab Donew, der amtierende Ministerpräsident in Bulgarien, der vom Präsidenten mit der Leitung eines Übergangskabinetts beauftragt worden war, weil auch bei der letzten Wahl im Oktober 2022 keine Regierung zustande kam, sagte: "Soweit ich Marija Gabriel persönlich kenne, halte ich das für eine gute und gut durchdachte Entscheidung."
Die angestrebte Koalition gilt als instabil wie die politischen Verhältnisse allgemein
Gabriel, die mit einem Franzosen verheiratet ist, hat in Sofia Bulgarisch und Französisch und dann in Bordeaux Internationale Beziehungen studiert; sie ist seit ihrer Jugend Parteimitglied bei Gerb. In Brüssel gibt es durchaus Stimmen, die sich darüber überrascht zeigen, dass die 44-Jährige ihren Kommissionsposten für einen Schleudersitz in Sofia aufgeben würde. Denn die Koalition, die Borissow anstrebt, gilt als ebenso instabil wie die politischen Verhältnisse allgemein. Andererseits ist die Erleichterung darüber groß, dass es eine Chance geben könnte, den politischen Stillstand zu beenden und die wachsende Macht des Präsidenten zu beschränken.
Radew hatte in den vergangenen zwei Jahren nach Belieben Politiker in Spitzenpositionen gesetzt und selbst Außenpolitik betrieben, weil sich die Fraktionen im Parlament gegenseitig blockierten. Verlierer des Vorstoßes von Borissow dürfte die Partei "Wir setzen den Wandel fort" rund um Ex-Premier Kiril Petkow sein, der eine Koalition mit Gerb verweigert hatte und vorerst aus dem Rennen um den Posten des Regierungschefs ist.
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Der Politikwissenschaftler Daniel Smilow vom Center for Liberal Strategies in Sofia fragt sich dennoch voller Skepsis, ob der Versuch von Gerb, die EU-Kommissarin als Premierministerin zu installieren, "ernsthaft oder nur Theaterdonner" sei. Sollte Borissow scheitern, werde wohl tatsächlich im Herbst ein sechstes Mal gewählt. Gabriel gehe allerdings kein hohes Risiko mit ihrer Kandidatur ein, so Smilow, da ihre Amtszeit in Brüssel dem Ende zugehe; schließlich werde kommendes Jahr in der EU gewählt. Borissow selbst, der ab 2009 mehrmals Regierungschef war, habe keine Chance mehr auf eine Wahl. Mit Marija Gabriel könne er sich schmücken und erneuere zugleich seine "Legitimation in Europa".
Andere Politikbeobachter in Bulgarien teilen die Zweifel von Smilow, dass der Versuch, endlich eine Regierungskoalition zu bilden, erfolgreich ist. Boris Popiwanow von der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht zwar eine euroatlantische Regierung am Horizont, die sich - zumal mit Gabriel - eindeutiger als bisher proukrainisch und antirussisch positionieren dürfte. Aber auch er warnt, dass zu viele Unbekannte in der Rechnung seien und sich die "politischen Intrigen bis in den Mai hineinziehen" dürften.