Bündnis 90/Die Grünen:"Ein deutliches Signal an die neuen Boygroups"

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Annalena Baerbock stellte sich am Donnerstag dem grünen Berliner Landesverband vor. (Foto: imago/Sven Simon)

Die 37-jährige Annalena Baerbock will neue Vorsitzende der Grünen werden. Die Bundestagsabgeordnete verlangt von ihrer Partei, sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen.

Interview von Stefan Braun und Constanze von Bullion

Sie ist eine grüne Reala, will aber für alle Parteiströmungen sprechen. Annalena Baerbock, 37, stammt ursprünglich aus Niedersachsen, hat Völkerrecht studiert und sich als Bundestagsabgeordnete mit Wahlkreis in Frankfurt (Oder) auf Klima- und Europapolitik spezialisiert. Am Samstag will sie sich beim Parteitag in Hannover zur neuen grünen Bundesvorsitzenden wählen lassen.

S Z: Frau Baerbock, warum wollen Sie Grünen-Chefin werden?

Annalena Baerbock: Um in diesen stürmischen Zeiten die ökologische Fahne, die europäische Fahne und vor allem die Gerechtigkeitsfahne hochzuhalten. Und auch, um in Zeiten, in denen der Bundestag nicht nur deutlich nach rechts, sondern auch in die Chauvi-Ecke rückt, ein deutliches Signal an die neuen Boygroups in diesem Land zu senden.

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Was soll mit Ihnen anders werden?

Mir geht es um die Kontroverse im Diskurs. Diese angestaubte Logik, je verbissener die politische Rivalität, desto größer die eigene Macht, das ist nicht mein Ding. Aber ein fairer inhaltlicher Diskurs ist doch viel spannender, als schon vorher zu sagen, das kommt am Ende raus. Es geht mir darum, bei Zukunftsthemen das eigentliche Ringen um die Position als Teil der politischen Antwort zu sehen.

Was bedeutet das konkret?

Nehmen Sie das Beispiel Digitalisierung. Sie wird unser Leben radikal verändern. Was zum Beispiel passiert mit unseren sozialen Sicherungssystemen, wenn der Faktor Arbeit immer weniger wert ist, weil Arbeit durch Roboter und Automatisierung ersetzt wird? Wer finanziert dann die Rentenkasse? Wir müssen unsere Position dazu finden. Dafür gibt es keine Schablone. Und je unterschiedlicher die Akteure, desto spannender wird doch die Debatte. Ziel ist, dass die Leute sagen: Ich bin zwar noch kein Grüner, aber bei deren Diskussionen muss ich dabei sein.

Kommt jetzt eine Verjüngung der Partei?

Ich glaube nicht, dass es um Verjüngung geht. Es geht um Bewegung. Viele Parteien haben sich so sehr um sich selbst gedreht, dass sie die Gesellschaft in gewissen Fragen angeschwiegen haben. Es gibt aber ein großes Bedürfnis nach politischen Debatten. Die Gesellschaft ist hochpolitisiert. Wenn ich in Brandenburg unterwegs bin, dann wollen die Leute diskutieren. Das passiert zum Teil in einer Ruppigkeit, die wenig mit Salon zu tun hat. Aber die Leute wollen streiten und ernst genommen werden. Wir müssen hingehen, wo es wehtut.

Das bedeutet: Raus aus der grünen Blase?

Raus aus der Komfortzone, ja.

Was heißt das für die Flüchtlingspolitik?

Es heißt: Raus nach Brandenburg gehen. Ich habe mich immer dagegen gewehrt zu sagen: Nee, ich gehe nicht dorthin, wo auch die AfD ist. Natürlich tue ich das. Sonst erreiche ich doch einen Teil meines Bundeslandes nicht. Und ich muss da erst recht sein, um denen den Rücken zu stärken, die sich engagieren, für Geflüchtete starkmachen und rechter Hetze entgegenstellen.

Sollten die Grünen mehr Rücksicht auf Ängste vor Zuwanderung nehmen?

Wenn Rücksichtnehmen bedeutet, dass keine Flüchtlinge mehr in meine Stadt kommen sollen, dann sage ich klar Nein. Aber gerade weil wir so vehement für eine humane Flüchtlingspolitik streiten, müssen wir uns den neuen Herausforderungen vor Ort stellen. Wenn der Schulbus morgens komplett voll ist, weil die neuen Dorfbewohner damit nun auch zum Sprachkurs in die Kreisstadt fahren müssen, dann muss ich den Unmut der Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr reinpassen, nicht nur ernst nehmen, sondern als Grüne beim Landrat dafür sorgen, dass es einen weiteren Bus gibt. Und wir müssen die Debatte ehrlich führen und anerkennen, dass unterschiedliche Leute unterschiedliche Meinungen haben können, manchmal auch in unserer eigenen Partei.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel die Frage sicherer Herkunftsstaaten. Ich habe ganz klar gesagt, dass ich persönlich dagegen bin, Algerien, Tunesien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Aber durch die Debatte auch innerhalb der Grünen machen wir erst richtig deutlich, wie zentral diese Frage für uns Grüne ist. Wenn wir nur sagen würden, "wir sind dagegen, Punkt, aus", entziehen wir uns der Argumentation. Wir sollten Streit nicht als Schwäche empfinden. Und Humanität ist für mich erst recht keine Schwäche. Jedes Menschenleben, das ich retten kann, will ich retten. Dafür kämpfe ich, bis es wehtut.

Was sagen Sie Leuten, die in den Grünen eine Besserverdienerpartei ohne Sinn für soziale Gerechtigkeit sehen?

Ich lade sie zu meinem Flüchtlingshilfeverein in Potsdam ein oder nehme sie zu meinen Terminen im ländlichen Raum mit. Wir gehen zu Menschen, die Kinder bekommen, und fragen sie, welche Unterstützung sie brauchen. Daraus wurde unser Modell zur Bekämpfung der Kinderarmut. Vielen Kindern wird schon beim Start ins Leben alles verbaut. Es fängt mit dem kostenlosen Schulessen an: An Schulen bei mir vor Ort lernen Kinder mit knurrenden Mägen, weil ein Drittel der Kinder beim Mittagessen nicht angemeldet ist - wegen bürokratischer Hürden, weil Eltern das nicht bezahlen können oder wollen. Diese Kinder lernen von Anfang: Ihr gehört nicht dazu. Das kann man im Lauf eines Lebens fast nicht mehr gutmachen.

Sie sind Bundestagsabgeordnete, Sie wollen Parteichefin werden, Sie haben zwei kleine Kinder. Wie kriegen Sie das hin?

So gut oder schlecht wie viele andere Frauen, die voll im Beruf stecken und diffuse Arbeitszeiten haben. Wobei ich den Vorteil habe, gut zu verdienen. Aber genau wie für eine Krankenschwester ist es auch für eine Grünen-Politikerin schwierig, wenn plötzlich die Schule anruft, weil das Kind Ohrenschmerzen hat. Daher habe ich auch klar gesagt, es wird Tage geben, da muss ich sagen, es geht heute mal nicht. Wir als Partei müssen vorleben, wie Vereinbarkeit funktionieren kann.

© SZ vom 26.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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