Brüssel:Konferenz gegen das Chaos

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Die Bilder vom Flüchtlingselend haben Kommissionschef Juncker bewogen, ein weiteres Sondertreffen in Brüssel einzuberufen. Eigentlich ist er dafür gar nicht zuständig. (Foto: AP)

Das EU-Gipfeltreffen am Sonntag soll die feindseligen Maßnahmen an Europas Grenzen beenden. Und es zeigt, wie viel besser die Zusammenarbeit zwischen Merkel und Juncker wird.

Von Daniel Brössler, Cerstin Gammelin und Thomas Kirchner

Richtig schlecht waren die Beziehungen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nie - auch wenn die beiden Christdemokraten über all die langen Jahre ihrer Zusammenarbeit stets weit davon entfernt waren, ein europäisches Traumpaar abzugeben. Seit einigen Wochen allerdings sind die beiden auf dem Weg dahin. Das Bedürfnis, die Flüchtlingskrise europäisch zu lösen, lässt Merkel und Juncker so eng kooperieren wie nie zuvor. Ein bemerkenswerter Höhepunkt dieser neuen Qualität ist die Einberufung eines Krisengipfels für kommenden Sonntag nach Brüssel. Geladen sind auch die EU-Anrainerstaaten des Westbalkans.

Die Tränen kämen ihm nicht so leicht, sagte Juncker am Mittwoch vor Beginn des Parteitages der Europäischen Volkspartei (EVP) in Madrid, aber wenn er Abend für Abend Flüchtlingsbilder wie zum Ende des Zweiten Weltkriegs sehe, "weine ich fast". Das Treffen am Sonntag habe er auch einberufen, um eine Antwort auf die "fast existenziellen" Probleme Sloweniens zu geben.

Es gehe darum, Lösungen für die Balkanstaaten zu finden. Etwa zur selben Zeit sagt Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin, Merkel sei "sehr froh", dass Juncker eine "Anregung" der Bundeskanzlerin aufgegriffen habe und die Chefs der betroffenen Länder an einen Tisch hole. Er gehe davon aus, dass sie sich "über Flüchtlingsbewegungen entlang der Westbalkanroute unterhalten werden". Was er nicht sagt, ist, dass Juncker streng genommen gar keine Gipfeltreffen einberufen darf. Dafür ist nach dem EU-Regelwerk der Präsident des Europäischen Rates, also Donald Tusk, zuständig. Aber Tusk ist Pole und als solcher auch ein Mann der neuen EU-Mitgliedstaaten, die sich außerordentlich schwertun mitzuhelfen, den Flüchtlingszustrom zu organisieren und sich auf eine EU-weite Verteilung einzulassen. Weil Tusk also Bedenken anmeldete, als Merkel ihn bat, einen Gipfel einzuberufen, sprang auf Bitten der Kanzlerin Juncker ein. Merkel und Juncker seien "persönlich engagiert", weil sie nicht zusehen wollten, wie Europa zerbröselt, heißt es in Berlin. Der Aufmarsch von Soldaten an innereuropäischen Grenzen, der raue Umgangston, das Abwälzen der Verantwortung auf die anderen Regierungen - das alles sei nicht hinnehmbar. Die Kommission selbst spricht von einer "europäisch-deutsch-slowenischen Initiative", die dem Treffen vorausgehe.

Es hat mehrere Ziele. Staaten, in denen Ressentiments die Verständigung erschweren, wie Serbien und Kroatien oder Griechenland und Mazedonien, sollen nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Serbien etwa soll erklären, unter welchen Bedingungen es Pufferzonen einrichten könnte. Der Zustrom soll geordnet werden. Zudem geht es um praktische Fragen: Wenn Slowenien mehr Zelte, Betten und Decken braucht, kann die EU-Kommission das über den europäischen Zivilschutzmechanismus organisieren. Auch zusätzliche Grenzbeamte könnte sie entsenden. Nicht zuletzt aber soll ein positives Ergebnis des Treffens die unwilligen Osteuropäer einlenken lassen. Die Zusammenkunft wird folglich vor allem von denen mit Unbehagen gesehen, die gegen ein dauerhaftes System zur EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen sind, wie es Merkel anstrebt.

Nächste Station nach dem Treffen am Sonntag ist dann eine Sondersitzung der Innenminister am 9. November, die der luxemburgische Außen- und Migrationsminister Jean Asselborn angesetzt hat. Sein Land hat derzeit den EU-Vorsitz inne. "Langfristige Pläne mit der Türkei werden das Problem jetzt nicht lösen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Wir müssen das Problem an den Außengrenzen in den Griff bekommen. Nur wenn die Auffangzentren in Griechenland funktionieren, können wir das Chaos auf dem Balkan beenden", betonte er. "In Griechenland ist der politische Wille da, aber das Land kann es alleine nicht schaffen." Die Hilfe müsse drastisch aufgestockt werden. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR müssten übernehmen. Entscheidend sei, dass die Flüchtlinge nach der Ankunft in Griechenland in großen Aufnahmezentren einen Asylantrag stellen und auf die Verteilung in andere EU-Staaten vorbereitet würden. Nur so könne die beschlossene EU-weite Verteilung von 160 000 Flüchtlingen in die Tat umgesetzt werden. "Ohne die Umsiedlung funktionieren die Hotspots nicht. Und ohne Hotspots gibt es keine Umsiedlung." Die Verteilung läuft schleppend. Am Mittwoch wurden weitere 68 Flüchtlinge aus Italien nach Schweden und Finnland geflogen, doch haben viele Staaten noch keine Aufnahme-Zusagen gegeben.

Verfolgte müssten Schutz erhalten, sagte beim Parteitag in Madrid der EVP-Vorsitzende Joseph Daul, warnte aber auch: "Es ist unverantwortlich, die Tür für alle Welt zu öffnen."

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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