Brasilien:Schüler an die Macht

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Jugendliche haben das Colégio Pedro II. in Rio de Janeiro einfach selbst übernommen. In ganz Brasilien sorgen sich junge Menschen, dass ihre Bildung rabiaten Sparmaßnahmen der Regierung zum Opfer fällt.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Luana und Luisa vom Komitee für Kommunikation kontrollieren an der Schulpforte die Personalien. Es geht zu wie beim Zoll. Name, Herkunft und Grund des Besuchs werden notiert, das alte Passbild kritisch untersucht. Schließlich sagt Luana, 17, zu Luisa, 18: "Okay, lass' ihn rein. Eine Stunde."

Eine weitere Schülerin, die hinter einem Schreibtisch in der Eingangshalle sitzt, händigt dem Besucher daraufhin einen selbstgebastelten Ausweis aus, den man sich mit einem Wollfaden um den Hals zu hängen hat. Sieht offenbar ziemlich albern aus, Luisa lächelt nämlich jetzt zum ersten Mal. Sie sagt: "Wir müssen halt streng auf die Sicherheit achten, hier haben schon Militärpolizisten versucht, in Zivil einzudringen." Polizisten sind die Letzten, die sie derzeit reinlassen wollen in die Mittelschule Pedro II. im Zentrum von Rio de Janeiro. Lehrer und Eltern haben auch nur für Kurzbesuche zwischen 9 und 18 Uhr Zutritt - falls das Sicherheitskomitee zustimmt. Journalisten müssen beim Kommunikationskomitee vorsprechen.

Das staatliche Colégio Pedro II., benannt nach dem letzten Kaiser von Brasilien, gehört zu den drei traditionsreichsten Schulen des Landes. 178 Jahre alt, mehrmals preisgekrönt. "Jetzt ist es zum ersten Mal besetzt", sagt Luana. Seit dem 26. Oktober findet kein regulärer Unterricht mehr statt. Die Schüler haben die Macht übernommen. Weil sie sich um ihre Bildung sorgen. In ganz Brasilien sind mehr als 1000 Schulen sowie einige Unis besetzt - von Schülern und Studenten. Der Protest richtet sich gegen das marode Bildungssystem und konkret gegen das erste große Projekt der neuen Regierung von Präsident Michel Temer: Es ist ein Verfassungszusatz, der eine Haushaltsbremse für die kommenden 20 Jahre festschreibt.

Die Staatsausgaben dürfen demnach nur noch im Tempo der Inflation steigen.

Damit will Temer die kriselnde Wirtschaft beleben, indem er, wie es bei solchen Plänen gerne heißt, "das Vertrauen der Märkte" zurückgewinnt. Um das Vertrauen von Luana und Luisa braucht er sich gar nicht erst zu bemühen. Temer ist vor allem unter jungen, relativ gut gebildeten Großstädtern aus der Mittelschicht verhasst, seit er im August mit einem dubiosen Impeachment-Verfahren die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff aus dem Amt drängte. Das Land driftet politisch mehr und mehr nach rechts, während die Linke vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Schüler und Studenten bilden derzeit die sichtbarste Oppositionsbewegung.

In Rio de Janeiro protestieren Menschen gegen Sparmaßnahmen der Regierung. (Foto: Antonio Lacerda/dpa)

Der Schriftzug "Temer raus" schmückt fast alle Fassaden der besetzten Schulen und Fakultäten. "Wir kämpfen gegen die Attacken der Putschregierung auf das Bildungssystem", erklärt Luisa. Ihre langen braunen Haar wehen im Ventilator-Wind eines Klassenzimmers, das zur Kommunikationszentrale umfunktioniert wurde. Sie trägt einen leichten Sommerponcho um die Schultern, ein Smartphone scheint an ihrer linken Hand festgewachsen zu sein. So sehen moderne, brasilianische Widerstandkämpferinnen aus.

Wenn man die Auswirkungen der Wirtschaftskrise Brasiliens besichtigen will, dann muss man nur in die öffentlichen Krankenhäuser, Polizeidienststellen oder Schulen gehen. Sie alle funktionieren nur noch im Notbetrieb. Im Bundesstaat Rio de Janeiro, der ganz offiziell den Finanznotstand erklärt hat, ist die Lage besonders dramatisch. Polizeiautos bleiben stehen, weil sie kein Benzin mehr haben, Aufzüge stecken fest, weil sie nicht mehr gewartet werden, fast alle Putzkräfte wurde wegrationalisiert, viele Schulen haben neben Lehrerstellen auch das subventionierte Mittagessen gestrichen.

Schulbesetzer wie Luana und Luisa befürchten den endgültigen Kollaps des Bildungssystems, falls sich Temer mit seinem Sparplan durchsetzt. Der Senat muss der Verfassungsänderung Mitte Dezember noch zustimmen. So lange wollen die Schüler im Colégio II. auf jeden Fall durchhalten. "Wir planen derzeit nicht mit Weihnachten im Familienkreis", sagt Luana. Sie war seit zwei Wochen nicht mehr zu Hause. Ihre Mutter unterstützt das. Sie ist Lehrerin, sie kennt das Problem. Weil Luana noch minderjährig ist, hat sie sich eine schriftliche Genehmigung ihrer Eltern besorgt, um in der Schule übernachten zu dürfen. Kontrolliert wird das von den Erwachsenen, den 18- und 19-Jährigen.

Die meisten Lehrer haben sich mit den Schülern solidarisiert und bleiben brav zu Hause. Luisa räumt aber auch ein, dass nicht alle einverstanden sind mit der Besetzung. Vor allem die Eltern der jüngeren Schüler ab elf Jahren sind entrüstet. Die haben jetzt den ganzen Tag ihre Kinder zu Hause und wissen nicht, was sie mit ihnen anfangen sollen. Luisa sagt: "Das ist hart, klar, aber wir leben in einem Land im Ausnahmezustand, das erfordert harte Maßnahmen." Luana meint: "Wenn wir jetzt nichts tun, dann haben die Elfjährigen in einem Jahr vielleicht gar keinen Schulplatz mehr."

Über die Besetzung des Colégios Pedro II. wurde im Schulparlament demokratisch abgestimmt. 233 Ja-Stimmen gegen drei Neinsager. Wie viele Leute nun tatsächlich dauerhaft im Matratzenlager im ersten Stock campieren, gehört zum Revolutionsgeheimnis. Es ist streng verboten, im Innenbereich der Schule Fotos zu schießen, Luana und Luisa reden auch nur unter der Bedingung, dass ihre Nachnamen nicht genannt werden. "Aus Sicherheitsgründen", wie sie sagen. Das Bildungsministerium in Brasília hat angeblich Namenslisten von streikenden Schülern und Lehrern angefordert. Das bestätigt auch ein Bericht der Nachrichtenagentur Agência Brasil. "Dieses Land wird wieder mit Diktaturmethoden regiert", sagt Luisa.

In der besetzten Schule gibt es weder Party noch Alkohol, dafür erstmals Mülltrennung

Das Bildungsministerium teilt mit, die Schüler hätten ein Recht auf Protest, allerdings habe niemand das Recht, andere Schüler am Unterricht zu hindern. Wegen der Besetzungen mussten die Mittlere-Reife-Prüfungen für Zehntausende brasilianische Schüler auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Viele Politiker und Eltern befürchten außerdem einen Sittenverfall in Schulhäusern, in denen seit Wochen nur die Anarchie von Heranwachsenden herrsche.

Die Demonstranten befürchten den Kollaps von Krankenhäusern, Polizeidienststellen oder Schulen. (Foto: Ricardo Moraes/Reuters)

Die Sorge ist offenbar unbegründet. Im Colégio Petro II. herrscht alles andere als Party-Betrieb, Drogen und Alkohol, selbst Zigaretten auf dem Schulhof sind streng verboten. Dafür wurde erstmals in 178 Jahren Schulgeschichte eine funktionierende Mülltrennung eingeführt. Alle Besatzer haben sich in Komitees organisiert, neben denen für Kommunikation und Sicherheit gibt es auch die für Verpflegung, Sauberkeit und Kultur. Die Schüler stehen um 6.3o Uhr auf und unterrichten sich praktisch selbst. Es gibt Gender-, Rassismus- und Volkswirtschaftsdebatten sowie Koch- und Yogakurse. Der ganze Tag folgt einem strikten Stundenplan. Jeden Morgen wird kollektiv geputzt. "So sauber war die Schule noch nie", versichert der Erdkundelehrer Michel Rosales, 35, der an diesem Tag eine Besuchergenehmigung erhalten hat.

Die schulische Besatzungsmacht hat jedoch vor allem ein Geld- und damit ein Versorgungsproblem. Deshalb wurde eine Tafel an der Schulpforte so aufgestellt, dass sie für Passanten von außen gut sichtbar ist, mit der Bitte um folgende Spenden: "Klopapier, Saftkonzentrat, Besen, Proteine (Fleisch, Huhn)."

Wie lange die Okkupation noch so weitergehen kann und soll? Das hängt laut der 17-jährigen Schülerin Luana einzig und alleine von der Regierung Temer ab. Sie sagt: "Wir sind offen für Dialog."

© SZ vom 12.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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