Brasilien:Knast oder Palast

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Der frühere Präsident von Lateinamerikas größter Demokratie soll wegen Korruption neuneinhalb Jahre ins Gefängnis. Doch Luiz Inácio Lula da Silva geht in Berufung - und so könnte er doch wieder zur Wahl im Herbst 2018 antreten.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Luiz Inácio Lula da Silva, so heißt es aus seinem Umfeld, habe die Nachricht von seiner Verurteilung gelassen hingenommen. Wenn das stimmt, dann ist er vermutlich der einzige Brasilianer, dem es so geht. Unmittelbar nachdem der Bundesrichter Sérgio Moro am Mittwoch das Strafmaß gegen den früheren Staatspräsidenten verkündet hatte - neuneinhalb Jahre Haft, Ausschluss von allen politischen Ämtern für 19 Jahre - begannen in Brasilien die Sondersendungen. Berichtet wurde auch darüber, dass die Kommentare zu diesem historischen Urteil am Nachmittag das weltweite Twitter-Ranking anführten. Es ist das erste Mal in der brasilianischen Geschichte, dass ein ehemaliger Präsident eine Haftstrafe erhält. Und dass es gleich den beliebtesten, bekanntesten und gleichzeitig am meisten gehassten von allen trifft, macht die Sache nicht weniger spektakulär. Von allgemeiner Gelassenheit kann keine Rede sein.

Brasiliens Parlamentarier unterbrachen am Mittwochmittag eine ebenfalls nicht ganz unwichtige Sitzung, um ihre Meinung zum Lula-Urteil kundzutun. So gespalten wie das ganze Land sprachen die einen von einer "Sternstunde der Gerechtigkeit" und die anderen von einem "Justizskandal". Dann eilten sie wieder ins Plenum, um sich ihrer aktuellen Aufgabe zu widmen: der Debatte zur Frage, ob die Korruptionsanklage des Obersten Gerichtshofs gegen den aktuellen Präsidenten Michel Temer im Kongress blockiert wird und damit auch dessen Suspendierung. Es ist noch kein Jahr her, dass dieselben Abgeordneten an dieser Stelle die Absetzung von Dilma Rousseff beschlossen, die zwischen Lula und Temer regiert hatte. Die Gegenwart der größten Demokratie Lateinamerikas sieht so aus: Ein Präsident verurteilt, eine Präsidentin abgesetzt, ein Präsident angeklagt.

Lulas Anwälte benutzten den Begriff "Lawfare", um das Urteil zu geißeln, juristische Kriegführung. Gemessen daran wirkte ihr Klient zunächst locker, als er am Donnerstagmittag erstmals Stellung nahm. Dann redete er sich allerdings in Rage. Der einzige Beweis, den Moro präsentiert habe, sei der Beweis seiner Unschuld. "Wer glaubt, dass sie mich mit diesem Urteil aus dem Spiel genommen haben, dem sage ich: Ich bin noch im Spiel!" Lula bekräftigte seine Absicht, bei den Wahlen im Herbst 2018 wieder anzutreten.

Jetzt erst recht. Der Fall wandert jetzt in die zweite Instanz, zum Berufungsgericht in Porto Alegre. Mit einer endgültigen Entscheidung wird nicht vor März nächsten Jahres gerechnet. So lange bleibt Lula da Silva, 71, ein freier Mann. So lange ist aber auch unklar, was das für den anstehenden Wahlkampf bedeutet. Moro hat am Mittwoch nicht nur einen ehemaligen Präsidenten, sondern auch einen künftigen Präsidentschaftskandidaten verurteilt. Das macht die Entscheidung so heikel. Lula will im Herbst 2018 wieder antreten. Und derzeit liegt er in allen Umfragen vorne. Falls Moros Schuldspruch bestätigt wird, ist die einstige Lichtgestalt Brasiliens erledigt. Aber selbst Lulas schärfste Gegner prophezeien: Falls er in der zweiten Instanz freigesprochen werden sollte, dann könnte ihm das einen politischen Auftrieb geben, der ihn tatsächlich zurück ins höchste Staatsamt trägt. Knast oder Palast, das steht für ihn auf dem Spiel.

Was die Last der Beweise betrifft, sind sich nicht nur die Politiker, sondern auch die Juristen uneins. Moro sieht es als erwiesen an, dass Lula als Präsident von 2003 bis 2010 sein Amt missbrauchte, um den Baukonzern OAS zu bevorteilen. Die Firma hat demnach ein Apartment Lulas aufwendig renoviert und soll dafür lukrative Aufträge des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras erhalten haben. Umstritten ist vor allem die Frage, ob Lula die Wohnung tatsächlich gehörte. Von den Staatsanwälten wurde der ehemalige Präsident als "Mastermind" eines gigantischen Korruptionsnetzwerks bezeichnet. Dem folgte Moro nicht. Im Vergleich zu seinen anderen Urteilen rund um dieses Netzwerk, wie das gegen den Bauunternehmer Marcelo Odebrecht (19 Jahre Haft) oder den früheren Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha (15 Jahre) kam Lula sogar glimpflich davon. Auch die Anklage will den Richterspruch deshalb anfechten. Sie hält ihn für zu milde.

© SZ vom 14.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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