Brasilien:Im Abseits

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Das Maracanã. Stühle fehlen, der Rasen darbt. Der Sehnsuchtsort der Fußball-WM von 2014 in Brasilien verfällt. (Foto: Nacho Doce/Reuters)

Das Maracanã-Stadion in Rio, eine Kathedrale des Weltfußballs und ein Wahrzeichen Brasiliens, verfällt.

Von Boris Herrmann

Katzen gab es schon immer im Estádio Mário Filho. Sie leben zu Hunderten neben Eingangstoren, hinter Tribünen, zwischen Kassenhäuschen. Bislang mussten sie sich das größte Stadion Brasiliens, besser bekannt unter dem Namen Maracanã, mit Fußballern und Zuschauermassen teilen. Jetzt haben die Tiere ihre Ruhe. Das Maracanã gehört ihnen allein.

Aus Katzensicht gibt es also nichts zu klagen. Auch die Gelegenheitsdiebe freuen sich, dass die Arena im Herzen von Rio de Janeiro ohne Aufsicht vor sich hin bröckelt. Sie steigen durch die Löcher in den Zäunen ein und nehmen alles mit, was sie tragen können: Fernseher, Kabelrollen, Wasserhähne. Sogar die Büste des Namensgebers Mário Filho wurde geklaut. Bilder des Schreckens waren dieser Tage in brasilianischen Medien zu sehen. Wo eben noch die olympische Eröffnungsfeier stattfand und vor nicht allzu langer Zeit ein WM-Finale gespielt wurde, verdorrt der Rasen, verschimmeln die Wände, blättert der Putz. Tausende Sitzschalen fehlen. Nun ist auch der Strom abgestellt.

Die für 400 Millionen Euro frisch umgebaute Arena hat derzeit keinen Betreiber und niemand will sich darum kümmern. Mehrere Parteien, darunter der korruptionsumwitterte Baukonzern Odebrecht, die Landesregierung sowie das lokale Olympiakomitee "Rio 2016" schieben sich gegenseitig die Schuld an dem Verfall zu. Eine Tochterfirma von Odebrecht hatte vor Jahren die Betriebslizenz erworben. Wegen der hohen laufenden Kosten will sie das Stadion aber loswerden. Nachdem im November der Zwischenmietvertrag mit den Olympiaorganisatoren ausgelaufen war, verweigerte Odebrecht die Rücknahme. Das Stadion sei in deutlich schlechterem Zustand als vor Olympia, hieß es.

"Rio 2016" hat aber keine Mittel mehr, um die Reparaturarbeiten zu übernehmen. Auch der Eigentümer, das Land Rio de Janeiro, kann nicht als Betreiber einspringen. Es hat den finanziellen Notstand erklärt und noch ganz andere Sorgen. Beamte, Polizisten und Rentner warten zum Teil seit Monaten auf ihr Geld. Bis ein neuer Lizenznehmer gefunden ist, soll Odebrecht nun gerichtlich gezwungen werden, sich um den Unterhalt des Stadions zu kümmern. Brasiliens beliebtester Klub Flamengo, der hier traditionell seine Heimspiele austrägt, plant für die im Februar beginnende Saison trotzdem mit dem Umzug auf einen größeren Sportplatz in der Nähe des Flughafens.

Es muss einiges passieren, bis die Brasilianer ihre Fassung verlieren. In diesem Fall ist der Grenzwert weit überschritten. Das Maracanã ist ja nicht irgendein Stadion - bis zum Umbau war es das größte der Welt. An die 200 000 Zuschauer drängelten sich in den 1950er-Jahren um den Rasen. Der Journalist Mário Filho schrieb zur Eröffnungsfeier, dieses Wunderwerk aus Beton habe der Nation eine neue Seele gegeben. Bis heute gehört es zu den Kathedralen des Weltfußballs und den Wahrzeichen Rios. Kaum vorstellbar, dass die Pariser auf ähnliche Weise den Eiffelturm verrotten ließen oder die Amerikaner die Freiheitsstatue. Zusammen mit dem Bau der Hauptstadt Brasília sollte das Maracanã einst Brasiliens Anspruch als Land der Zukunft verkörpern. Jetzt ist es zum Symbol der brasilianischen Krise geworden. Boris Herrmann

© SZ vom 16.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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