Brandenburg:Wenn der Aufschwung in die Stadt zieht

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Restauriertes Mittelalter: Brandenburgs Rathaus am Altstädtischen Markt. (Foto: picture alliance / Bernd Settnik)

Brandenburg an der Havel hat jahrzehntelang Einwohner verloren, doch nun locken seine Altstadt und günstige Wohnungen immer mehr Berliner an. Aber nicht jeder Ortsteil profitiert davon.

Von Camilla Kohrs, Brandenburg an der Havel

Vor zwei Jahren stellten Katrin Kästner und Urban Luig eine Rechnung auf. Sie hatten gerade ihr zweites Kind bekommen und lebten im Berliner Südwesten auf 80 Quadratmetern. Kästner, Texterin, und Luig, Theaterschauspieler, suchten nach einer Wohnung mit genug Platz für die Kinder, die für die beiden Freiberufler aber auch bezahlbar ist. "Wir haben damals durchgerechnet und in Berlin blieben uns nur Viertel wie Hohenschönhausen", sagt Kästner. In das Plattenbauviertel im Nordosten Berlins wollte die junge Familie nicht ziehen, sondern irgendwohin "wo es auch nett und die Bahnanbindung gut ist", sagt Kästner.

Luig spielte damals ab und an Theater in Brandenburg an der Havel, eine etwa dreiviertelstündige Fahrt mit der Regionalbahn vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Auf der Bühne, während eines Improvisations-Stücks, fragte Luig ins Publikum, ob nicht jemand eine freie Wohnung kenne. Eine Frau habe gleich reingerufen: "Bei uns wird was frei." Die Wohnung, von der die Zuschauerin sprach, liegt mitten in der historischen Innenstadt, die gewachsen ist nach den Bedingungen, die die wild verästelte Havel vorgibt. Am Sommertagen tuckern Boote unter den zahlreichen Brücken hindurch, die Altstadt, Neustadt und Dominsel miteinander verbinden. Mitten in der Stadt leihen sich Touristen Hausboote und starten zu den umliegenden Seen, Jachten liegen an den Stegen der Neustadt. Die Stadt hat eine lange Geschichte, wurde im zwölften Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt. Zu DDR-Zeiten arbeiteten hier bis zu zehntausend Arbeiter in der Stahlindustrie, der örtliche Fußballverein heißt bis heute FC Stahl. Mittelalterliche Türme und spätgotische Kirchen prägen die Stadt, in deren Straßen sich historische Wohnhäuser mit Gebäuden aus der Gründerzeit abwechseln. Auch in einigen ehemaligen Fabriken sind Wohnungen entstanden, die mit Blick aufs Wasser schon einmal 1900 Euro Miete für drei Zimmer kosten können.

Ganz so großzügig leben Katrin Kästner und Urban Luig mit ihren zwei Kindern zwar nicht, aber großzügiger als zuvor in Berlin. Ein langer, breiter Flur mit Dielenboden führt zum Esszimmer, in dem die beiden an diesem Augustmorgen sitzen. Die Kinder sind in der Kita und in der Schule, die nur zehn Minuten zu Fuß entfernt sind. Auf dem Tisch steht Humus und Marmelade, aus selbst gepflückten Erdbeeren, die Kästner in ihrem Schrebergarten angebaut hat. Einen Kleingarten zu haben, das gehört in Brandenburg zum guten Ton, sagt Kästner.

Menschen wie Kästner und Luig sind der Grund, warum in Brandenburg an der Havel eine Wachstumseuphorie ausgebrochen ist. Lange profitierte nur der direkte Speckgürtel Berlins - oder wie manche als Anspielung auf die linksliberale Einstellung der Zuzügler bereits sagen, der "Tofu-Gürtel" - von diesem Wachstum und der Wohnungsnot in der Hauptstadt.

Jahrelang hat Brandenburg damit gekämpft, dass hier so vieles schrumpfte. Nach der Wende verschwand die Stahlindustrie, die Arbeitslosenquote lag bei 20 Prozent, und lebten in den Achtzigerjahren noch 95 000 Einwohner in der Stadt, so sind es heute gerade noch knapp 72 000. Nun, da seit fünf Jahren die Kurve wieder ganz leicht nach oben zeigt, hoffen Lokalpolitiker auf den Aufschwung. Schon heute ist Brandenburg die Pendlerhaupstadt des Landes, mehr als 9000 Menschen pendeln jeden Tag hinaus, mehr als 12 000 herein. Investoren stünden bereits Schlange, um Baulücken zu füllen, berichtet Yvonne Stolzmann, für die Stadtentwicklung zuständige Fachgruppenleiterin in der Stadtverwaltung.

Dabei hat die Stadt eigentlich kein Problem mit fehlendem Wohnraum. Etwa zehn Prozent der Wohnung stehen noch leer. Und so kommt es, dass in der Stadt, die im Zentrum wachsen will, Tausende Wohnungen abgerissen werden. Ein solches Nebeneinander von Aufschwung in der boomenden Region um Berlin und Rückgang in den aussterbenden Regionen am Rand prägt das ganze Bundesland. In Brandenburg an der Havel liegen Auf und Ab nur einige Minuten voneinander entfernt.

Laut Prognosen wird die Stadt noch mehr Menschen verlieren

Das Erbe der DDR: Plattenbauten in Brandenburg-Hohenstücken. (Foto: Camilla Kohrs)

Hohenstücken etwa, ein Stadtteil im Norden von Brandenburg, nur zwölf Fahrtminuten mit der Straßenbahn von Kästners und Luigs Wohnung entfernt, zeigt das andere Gesicht von Brandenburg an der Havel, das mit der idyllischen Wasserstadt nicht viel zu tun hat, sondern vielmehr zu dem Fakt passt, dass die Stadt nach Frankfurt an der Oder das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen von allen Kreisen im Bundesland hat. Dort steht an einem Augustmorgen Christin Willnat auf einer Straße aus bröckeligen Bodenplatten und zeigt auf einen Mann, der auf einer Wiese Müll sammelt. "Dort, wo der Mann jetzt steht, bin ich aufgewachsen", sagt Willnat. Bis vor etwa zehn Jahren stand in der Mitte der Wiese eine WBS 70. Der Plattenbautyp mit braunen, kleinen Steinen an der Fassade prägt noch heute das Viertel, das in den Siebzigerjahren erbaut wurde. Willnat ist nach ihrem Studium in Berlin wieder zurückgezogen. Mittlerweile wohnt die 33-Jährige zwar ein paar Kilometer entfernt, ist aber seit einem halben Jahr Vorsitzende des Bürgerbeirats von Hohenstücken.

Kurz nach der Wende lebten in Hohenstücken etwa 20 000 Menschen, heute sind es noch knapp 7500. Willnat erzählt, wie es hier früher einen belebten Wochenmarkt gab, wie sie als Kind Krabbenchips vom "China-Restaurant" geschenkt bekam, das direkt neben ihrem alten Wohnhaus lag. Das Lokal gibt es nicht mehr und das Gebäude, in dem es mal war, ist zerfallen, Pflanzen sprießen zwischen dem kaputten Beton, Graffiti zieren die Wände. Auf einem Plakat, das an der Fensterscheibe vom Bürgerhauses hängt, zeigen 24 rote Kreuze, welche Häuser kurz vor dem Abriss stehen oder vor bereits abgerissen wurden. Das Haus, in dem Willnat aufwuchs, ist schon nicht mehr eingezeichnet.

Dieses Gefühl, dass der Stadtteil nach und nach ausstirbt, belastet viele Bewohner. Willnat steht ein paar Straßenecken weiter vor einer leerstehenden WBS 70, die bald abgerissen wird. "Wer möchte denn so hierher ziehen?", fragt Willnat.

Aber auch Hohenstücken soll vom Aufschwung der Stadt profitieren. An einigen der frei werdenden Stellen sollen bald neue Häuser entstehen, kleinere Mehrfamilienhäuser für Eigentümer. Es sind bereits Seniorenwohnheime und eine kleine Einfamilienhaussiedlung entstanden. Die Häuser seien schnell verkauft gewesen, sagt Willnat. Sie hofft, dass wieder mehr Familien in den Stadtteil ziehen, dass sich die Bevölkerung stabilisiert und nicht noch kleiner wird. "Es soll wieder so schön familienfreundlich werden, wie es mal war", sagt Willnat. Spätestens 2030, sagt sie, sei es hier wieder richtig schön.

Das Land Brandenburg hat eine Bevölkerungsprognose bis zu dem Jahr erstellt und die sieht für die Stadt weiteren Einwohnerschwund voraus. Yvonne Stolzmann von der Stadtverwaltung verspricht sich deswegen von dem Zuzug nicht zu viel. "Der müsste extrem steigen, um die hohe Sterberate auszugleichen", sagt sie. Sie freue sich über die Investoren, die neuen Wohnraum bauen wollen, aber warnt vor Gefahren. Wenn über 1000 Wohneinheiten gebaut werden, müssten mindestens 1800 Menschen herziehen, rechnet Stolzmann vor. "Aber wo sollen die alle herkommen?", fragt sie. Wenn zu viele Wohnungen gebaut werden, werden hauptsächlich Stadtbewohner in die attraktiveren, neuen Wohnungen ziehen und abgelegenere Viertel, wie beispielsweise Hohenstücken, könnten noch mehr Einwohner verlieren.

Es sind nicht nur die Zuzügler, die Brandenburg neu anwerben muss, die Stadt muss auch die bereits Zugezogenen halten. Zurück in der Küche von Kästner und Luig. Das Paar genießt die kurzen Wege in der Stadt, die Natur, die zehn Minuten, die sie nur zu ihrem Kleingarten brauchen. "Wir leben gern hier", sagt Kästner. Luig merkt man an, dass er Berlin auch vermisst. Er genieße es sehr, dass er wegen seines Jobs immer wieder dahin fahre. Wäre er nur in Brandenburg, würde ihm auch etwas fehlen, sagt er. Als sie nach Brandenburg zogen, fragten viele ihrer Freunde, ob nun das Eigenheim im Grünen komme, erzählt Luig. Aber das Paar wohnt lieber zur Miete. "So bleiben wir mobil", sagt Luig.

Viele kommen aus Berlin nach Brandenburg, sagt Stolzmann, nicht unbedingt, weil es hier günstiger ist, sondern weil sie raus wollen aus der Stadt. Zumindest zum Wohnen, denn zum Arbeiten fahren immer mehr Menschen mit dem RE1 über Potsdam nach Berlin. Und die Nachfrage steigt. Ab 2022 sollen die Züge öfter fahren.

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