Boris Johnson:Stunde der Wahrheit

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Boris Johnson, bis vor gar nicht so langer Zeit noch Premierminister von Großbritannien, ist jetzt wöchentlicher Kolumnist der "Daily Mail". (Foto: Matt Dunham/AP)

Das britische Unterhaus billigt nach fünf Stunden langer Debatte den Bericht des Komitees, das Boris Johnson seinen Parlamentspass abnehmen will. Und die Polizei ermittelt wieder zum "Partygate".

Von Michael Neudecker, London

Boris Johnson meldete sich am Wochenende wieder zu Wort, auf Seite 19 der Daily Mail. Ganz oben war seine erstaunlich akkurat gekleidete Silhouette abgebildet, daneben stand groß in Blau "Boris", darunter so klein gedruckt "Johnson", als ob das kaum interessiert. In dem ganzseitigen Text ergießt der ehemalige Premierminister seine Gedanken zu seiner Fettleibigkeit über die Leser.

Es geht um seinen nächtlichen Appetit auf Wurst und wie er versuchte, seine Lust auf Schinken-Sandwiches medikamentös zu zügeln. Es sei ihm zwar schlecht gegangen mit diesem Medikament, aber bei Kabinettskollegen habe es gewirkt, einer habe sogar so stark abgenommen, dass der Stuhl am Kabinettstisch "nicht mehr versuchte, sich an seiner Hüfte festzukrallen, wenn er aufstand". Und deshalb plädiere er, Boris (Johnson), dafür, dass alle künftig die Chance haben sollten, dieses Medikament zu verwenden. Auch wenn es zu seiner Verwunderung ("what the hell") ja schon recht teuer sei.

Kein Witz. Boris Johnson, bis vor gar nicht so langer Zeit noch Premierminister des G-7-Staates Großbritannien, ist jetzt wöchentlicher Kolumnist der Daily Mail. Das immer noch auflagenstarke Boulevardblatt, das sich von jeglicher Form des seriösen Journalismus längst verabschiedet hat, bezahlt ihm dafür angeblich deutlich mehr als eine halbe Million Euro pro Jahr. Er werde, teilte Johnson den Lesern mit, wirklich nur dann über Politik schreiben, "wenn es unbedingt sein muss". Nun: Es muss nie sein, jedenfalls nicht, wenn es nach einigen seiner ehemaligen Kollegen in seiner ehemaligen Partei geht.

Muss Boris Johnson seinen Ausweis für das Parlamentsgelände abgeben?

Boris Johnson war einmal der vermeintliche Heilsbringer der Tories, 2019 hat er eine historisch große 80-Sitze-Mehrheit bei den Wahlen errungen. Vergangene Woche ist er von seinem Mandat als Abgeordneter zurückgetreten, und an diesem Montag ging es im Unterhaus darum, ob Johnson auch seinen Zutrittspass für das Parlamentsgelände abgeben muss - das gab es noch nie bei einem ehemaligen Premierminister. Fünf Stunden wurde über den Bericht des "Committee of Privileges " debattiert, bevor er mit 354 zu sieben Stimmen angenommen wurde. Die Empfehlungen des Komitees werden also umgesetzt. Wie erwartet nahmen viele Tories, darunter Premierminister Rishi Sunak, nicht an der Abstimmung teil oder enthielten sich.

Das Komitee hatte nach einer einjährigen Untersuchung Johnson für schuldig befunden, das Parlament während des "Partygate" genannten Skandals um regelwidrige Zusammenkünfte am Regierungssitz in Downing Street vorsätzlich belogen zu haben, als er sagte, es seien alle Regeln befolgt worden. Auch "Partygate" selbst ging am Montag weiter: Nachdem am Wochenende zum ersten Mal ein Video von einem dieser Feste auftauchte, auf dem Mitarbeiter der Tories sich darüber lustig machen, "dass wir gerade die Regeln ausdehnen", gab die Metropolitan Police am Nachmittag bekannt, die Ermittlungen wiederaufzunehmen.

Johnson wettert seit Veröffentlichung des Berichts über "Hexenjagd" und Ähnliches, manche seiner Unterstützer echauffieren sich, die Strafe sei unverhältnismäßig. Wäre Johnson nicht schon abgetreten, so wäre er für 90 Tage suspendiert worden. Den Pass, den ehemalige Abgeordnete sonst ehrenhalber behalten, muss er nun abgeben. Unverhältnismäßig?

Ein Vorbild zu sein, war nie Boris Johnsons Anspruch

Das britische Unterhaus folgt strengen, teils jahrhundertealten Regeln. Die wichtigste lautet: Abgeordnete müssen im Unterhaus zu jeder Zeit die Wahrheit sagen. Sollte ihnen ein Fehler unterlaufen, haben sie die Chance, zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Aufzeichnung zu korrigieren - denn alles, was im Unterhaus gesagt wird, wird aufgezeichnet, auf der Pressetribüne sitzen eigens dafür immer mehrere Parlamentsmitarbeiter, die sich in einem rotierenden Schichtsystem abwechseln. Abgeordnete werden deshalb mit dem Titel "The Right Honorable" angesprochen, "der/die Ehrenwerte". Verletzt jemand diese Ehre, erfolgt eine Untersuchung mit eventueller Sanktion, die umso drastischer ausfällt, wenn es den Premierminister betrifft - denjenigen, der allen ein Vorbild sein sollte. Ein Vorbild sein, das aber war ja nie Johnsons Anspruch.

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Vor ein paar Tagen veröffentlichte die Times auf ihrer Leserbriefseite eine Zuschrift von John Claughton. Er war von 1984 bis 2001 Master am Eton College, ein Lehrer also, der in der britischen Eliteschule aber auch eine Tutor-ähnliche Funktion hat. Claughton schreibt: Die "wahrscheinlich wichtigste Aufgabe" der Schule sei, "sicherzustellen, dass ihre Schüler vor dem Gefühl der Privilegierung, des Anspruchs und der Allwissenheit bewahrt werden". Dieses auf ungute Weise überhebliche Gefühl nämlich bringe "Absolventen wie Boris Johnson" hervor, und das könne für das ganze Land zum Problem werden. "Traurigerweise", schloss Claughton, habe er "bei dieser Aufgabe versagt".

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