Vier erfahrene deutsche Historiker haben von einer deutschen Behörde einen Studienauftrag bekommen, deren Geschichte zumindest teilweise zu erforschen, aber sie sprechen darüber wie über eine Reise in eine andere Galaxie: Einer redet von einem "Abenteuer", der andere von einer "Expedition" und der Chef der Behörde, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Ernst Uhrlau, sagt: "Wir öffnen ein Fass, von dem wir nicht wissen, was drin ist".
Das geheimnisvolle Fass ist das Archiv der Behörde; also normalerweise ein Ort der Ordnung. Vor allem mit Hilfe von Dokumenten sollen die Historiker Jost Dülffer (Uni Köln) Klaus-Dietmar Henke (Technische Universität Dresden), Wolfgang Krieger (Philips-Universität Marburg) und Rolf-Dieter Müller (Humboldt-Universität Berlin) in den kommenden vier Jahren die Zeit zwischen 1945 und 1968 aufarbeiten. Niemals zuvor hat der Dienst einen solchen Einblick erlaubt.
Die vierköpfige Historikerkommission soll von einer siebenköpfigen internen Forschungs- und Arbeitsgruppe des BND unterstützt werden, die sich "Geschichte des BND" nennt und von dem BND-Historiker Bodo Hechelhammer geleitet wird. Das Projekt ist mit dem Namen des Präsidenten verbunden - schon vor vier Jahren sagte Uhrlau, er sei "sehr dafür, Historikern zu geben, was möglich ist" und sie in die Geschichte des Dienstes "hineinschauen zu lassen".
1945-1968 - das waren vor allem die Jahre des großen Geheimnistuers Reinhard Gehlen, der sich selbst "Schöpfer" des Dienstes nannte. Geheimer Gottvater also. Nach dem Krieg hatte der chronisch misstrauische Wehrmachtsgeneral alte Kameraden in der Organisation Gehlen (ORG) um sich gesammelt, von denen viele vorher in der SS oder beim Reichssicherheitshauptamt, der Zentrale des organisierten Völkermordes, im Einsatz gewesen waren.
Die ORG, die im Kalten Krieg zum Balg amerikanischer Dienste wurde, war dann der Vorläufer des 1956 gegründeten deutschen Auslandsdienstes. Merkwürdigerweise spionierte der auch im Inland, was illegal war, aber vom Kommunistenfresser Gehlen später als Erledigung "innenpolitischer Schutzaufgaben" umschrieben wurde. Als 1968 der Panzerschrank Gehlens ausgeräumt wurde, fanden sich Dossiers über 54 deutsche Politiker, etwa den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann.
Die NS-Verstrickungen, die Innenspionage, die Ausforschungen von Parteien wie der SPD, die Vorgeschichte der Spiegel-Affäre, die innerdeutsche Geheimdienstgeschichte und die Auseinandersetzungen zwischen dem BND, dem Bundeskanzleramt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz sind ein toller Stoff für Zeitgeschichtler.
"Das Projekt ist sensationell", sagt Henke. Auch der in internationalen Geheimdienstangelegenheiten sehr erfahrene Wolfgang Krieger findet die "Materie spannend". Der Potsdamer Militärfachmann Müller interessiert sich unter anderem für Hintergründe zur Stalin-Note von 1952 und Düllfer, der als Historiker auch über den ersten Kanzler, Konrad Adenauer, gearbeitet hat, kann sich viele spannende Themen vorstellen.
Wenn die Mitglieder der Kommission, die den Vertrag noch nicht unterschrieben haben (was aber nur eine Formsache sein soll), über ihre künftige Arbeit sprechen, taucht verräterischerweise das Wort "eigentlich" immer wieder auf. Eigentlich soll das Archiv des BND eine Art Gedächtnisspeicher der Behörde sein, aber dieser Speicher befindet sich, wie ihnen mitgeteilt wurde, in einem erbärmlichen Zustand.
Der BND verfügt nach eigener Darstellung mehr als 50 Jahre nach der Gründung über ein "mehrere tausend Aktenbestände umfassendes, aber bislang in weiten Teilen noch gänzlich unerschlossenes beziehungsweise nur grob geordnetes Archiv". Auch haben Insider den Verdacht, dass eine Menge Dokumente der in diesen Kreisen üblichen Kassation zum Opfer gefallen sind, wie Archivare den Vorgang der Aktenvernichtung vornehm umschreiben. 5000 sogenannte Akteneinheiten seien erschlossen worden, heißt es beim BND.
Eine Akteneinheit ist ein unbestimmter Begriff, denn sie kann aus einigen Blättern, aber auch aus mehreren Ordnern bestehen. 15.000 Akteneinheiten müssen noch erschlossen werden. Sie liegen in diversen Häusern in Pullach. Eigentlich fühlt sich der BND bei dem Projekt dem "Grundsatz maximaler Transparenz verpflichtet", wie der Dienst wissen lässt.
Sowohl die Kommissionsmitglieder als auch die "eingebundenen Fachwissenschaftler" sollen "einen umfassenden Zugang zu dem vorhandenen Archivbestand" bekommen. Was aber am Ende der jeweiligen Forschung publiziert werden darf, bedarf dann noch wegen der Bestimmungen des Archivgesetzes, des Persönlichkeitsrechts, aber auch wegen der üblichen amtlichen Geheimnistuerei der Zustimmung des Dienstes.
Also - schwierig und spannend wird es werden, aber der BND ist nicht der einzige deutsche Dienst, der sich in diesen Tagen mühsam um ein Stück Aufarbeitung seiner Geschichte bemüht. Das Bundeskriminalamt hat schon vor Jahren damit begonnen, seine braune Vergangenheit aufzuarbeiten und das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die NS-Aufarbeitung öffentlich ausgeschrieben.
Präsident Heinz Fromm will die Frühgeschichte des Kölner Amtes von 1950 bis 1975 und die Verwicklung des Gründungspersonals in die Verbrechen des Dritten Reichs untersuchen lassen. Vor einigen Monaten hatte auch das Auswärtige Amt eine Amtsgeschichte vorgelegt. Überall drängt die Zeit, auch bei den BND-Historikern. Denn nicht nur das offensichtliche verluderte Archiv verrät, was Mitarbeiter an Lebens- oder Arbeitsspuren hinterlassen haben. "Es gibt noch Zeitzeugen" sagt Krieger "und die müssen wir bald interviewen".