Am Ende wurde Angela Merkel gefragt, was sie mitnehme aus der Diskussion mit den Bürgern. "Ich nehme erst mal mit", antwortete die Kanzlerin an die 60 Zuhörer in der Berliner Kulturbrauerei gerichtet, "dass Sie sich toll vorbereitet haben." Zweitens, dass Gesundheit und soziale Sicherung "ein Riesenthema" für die Menschen seien. Zudem habe sie an den Wortmeldungen gesehen, "dass es unterschiedliche Meinungen gibt". Das war am 13. April 2015, bei der Auftaktveranstaltung des Bürgerdialogs der Bundesregierung.
18 Monate später befasst sich das Kabinett am Mittwoch mit dem "Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland". Zugleich wird er im Internet veröffentlicht: www.gut-leben-in-deutschland.de. Mit Anhang ist der Bericht 238 Seiten dick und das Ergebnis aus Veranstaltungen mit und ohne Merkel, Internetforen und Postkartenaktionen. Der Bericht, so heißt es im Kanzleramt, sei "ein Kompass" für künftiges Regierungshandeln.
Umfrage:Studie: "Generation Mitte" hat Angst trotz materiellen Wohlstands
Die 30- bis 59-Jährigen bewerten ihre persönliche Lebensqualität einer Allensbach-Erhebung zufolge weiterhin positiv. Trotzdem sorgt sich die "Generation Mitte" um die Zukunft. Die Grafiken zeigen, warum.
Die Kanzlerin selbst äußerte sich in ihrem Video-Podcast am Wochenende auch nach eineinhalb Jahren noch begeistert über ihr Volk: Sie habe sich darüber gefreut, überall auf engagierte Menschen zu treffen, "die nicht einfach nur geklagt haben oder etwas nicht gut gefunden haben, sondern die immer überlegt haben: Wie können wir es besser machen?"
Zur Lebensqualität gehört für die Deutschen auch das Gefühl des Zuhauseseins
Davon freilich ist wenig bis nichts eingegangen in den Bericht. Vielmehr ist das Konvolut vor allem eine doppelte Zustandsbeschreibung: Zum einen konnten die Bürgerinnen und Bürger sagen, was für sie Lebensqualität ausmacht. Zum anderen hat die Regierung dem mit vielen Statistiken gegenübergestellt, was ist, und was sie schon tut. Was künftig noch getan werden soll, ist hingegen eine Frage, über die das Volk nicht im Dialog, sondern bei der Bundestagswahl abstimmen kann. Im Kanzleramt gibt man sich da aus Rücksicht auf künftige Regierungskonstellationen vorsichtig: Mit dem Bericht sei "eine Struktur angelegt, an der sich die Politik in den nächsten Jahren orientieren kann".
Besonders wichtig erscheint es den Deutschen jedenfalls, in Freiheit und Sicherheit zu leben, Letzteres sowohl außenpolitisch in Frieden, als auch im eigenen Land ohne Angst vor Kriminalität. Gesundheit, Bildungschancen, ein ordentliches Einkommen und eine gute Arbeit wünschen sie sich auch - und Zeit für die Familie. Zur Lebensqualität gehört für die Deutschen außerdem gesellschaftlicher und familiärer Zusammenhalt, ein Gefühl des Zuhauseseins, der Erhalt der Natur und ein Staat, der in die Zukunft investiert.
An 203 Dialogveranstaltungen nahmen insgesamt 8650 Menschen teil
Der Abgleich mit der Wirklichkeit hält einige abweichende Botschaften bereit. So ist in manchen Bevölkerungsgruppen die Angst vor Kriminalität größer als die tatsächliche Bedrohung - statistisch gesehen. Wenig erfreulich ist auch, dass die Lohnentwicklung nicht nur hinter den Erwartungen der Menschen, sondern auch hinter der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt zurückgeblieben ist. Und noch immer wurde die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft nicht durchbrochen, wie es ein Regierungsmann formuliert.
Die Bürgerdialoge fanden im Zeitraum zwischen April und Oktober 2015 statt. Das dominierende innenpolitische Thema der vergangenen Monate, die Flüchtlingskrise, erfasste diese Veranstaltungen nur teilweise. Der massive Zuwachs an Hasskriminalität, der sich aus bereits vorliegenden Statistiken ergibt, die in den Bericht eingeflossen sind, dürfte freilich auch mit diesem Thema zu tun haben. 2015 wurden 10 373 Fälle gezählt, der höchste je gemessene Wert und ein Anstieg von 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Fremdenfeindliche Straftaten stiegen sogar um mehr als das Doppelte, ebenso die Hassbekundungen im Internet.
Dreieinhalb Millionen Euro hat die Regierung in den Bürgerdialog investiert. Die Ergebnisse will sie nun zur Debatte stellen. Hinzu kommt, heißt es, als politischer Wert ein gewisser partizipatorischer Effekt: In 50 der 203 Dialogveranstaltungen diskutierten die Menschen mit einem Mitglied der Bundesregierung. Insgesamt nahmen 8650 Bürgerinnen und Bürger an den Gesprächsrunden teil, die von Vereinen, Organisationen oder Volkshochschulen initiiert wurden. 2653 äußerten sich via Internet, 4573 per Postkarte.