Jean Ziegler sieht wirklich nicht so aus, wie man sich einen UN-Berater vorstellt. Es fängt schon beim Klingelschild an. Eine UN-Visitenkarte, obendrauf das honorige Logo der Vereinten Nationen in Himmelblau, die Karte aber ist mit ollem Tesafilm schief über die Klingel geklebt.
Als die Tür aufgeht, steht da ein stattlicher Mann, braungebrannt, er kommt schließlich gerade aus Ruanda, barfuß in ausgetretenen Halbschuhen und in einer uralten Hose, die so phänomenal ausgebeult ist, dass man sie mittlerweile vielleicht auch als Zelt benützen könnte. Eine herzliche Begrüßung, "wir gehen gleich mal essen, oder?", dann muss er noch ganz kurz sein Zeug zusammensuchen und sprintet die Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Beeindruckend, der Mann ist schließlich 78.
Während wir auf ihn warten - ein Traktor knattert vorbei, hinter der Kurve fallen die Weinberge sanft ab in Richtung Frankreich: Russin, ein Dorf in der Nähe von Genf, direkt an der Grenze - während wir so warten, können wir schnell das abarbeiten, was eh immer kommt, die entscheidenden Momente, die auch an diesem Tag nochmal erzählt werden: Wie er 1964 einige Tage lang hier in Genf der Fahrer von Che Guevara war. Als er am Ende schüchtern fragte, ob er nicht mitkommen könne nach Kuba, soll Che von seinem Zimmer im Hotel Intercontinental auf die Stadt hinausgeblickt und gesagt haben: "Hier bist du geboren, da ist das Gehirn des Monsters. Hier musst du kämpfen."
Oder wie er in Kongo in den Sechzigerjahren, als junger UN-Mitarbeiter, Zeuge des unfassbar grausamen, chaotischen Bürgerkriegs wurde, wodurch alle bornierten europäischen Wissensgewissheiten, mit denen der junge Ziegler angereist war, geschreddert wurden. Wie er, zurück in Paris, Jean-Paul Sartre davon erzählte, Sartre, dem Übervater, der ihn plötzlich stundenlang ausfragte wie einen Schüler und am Ende rief: "Mais il faut écrire tout cela!" Simone de Beauvoir, die dann im Café de Flore Zieglers fertigen Text auseinandernahm.
Mehr als 20 Bücher hat Ziegler geschrieben
Ziegler ist ein guter Schauspieler: Er deutet die mondäne Arroganz der Beauvoir an, wie sie im Café kopfschüttelnd alles durchstreicht, und dabei immer wieder seufzt: "Ce n'est pas français". Am Ende sah sie seinen Namen, sagte: "Mais Hans, Hans, das ist doch kein Name!", entledigte den in Thun geborenen Deutschschweizer Ziegler mit einem resoluten Strich seines ursprünglichen Vornamens und gab ihm ungefragt einen neuen. Et voilà, der Autor Jean Ziegler war geboren.
Der hat mittlerweile mehr als 20 Bücher geschrieben. Über die Schweiz und ihren problematischen Reichtum. Über Afrika und seine Despoten. Über den Sinnverlust in den modernen Industriegesellschaften. Und immer wieder: über den Hunger in der Welt, das Thema, das diesem Mann geradezu physischen Schmerz zu bereiten scheint, ja das ihn derart umtreibt, dass er auf dem Weg ins Restaurant abrupt auf der kleinen Dorfstraße stehen bleibt und sagt: "Die USA haben im vergangenen Jahr 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt, und gleichzeitig ist alle fünf Sekunden irgendwo auf der Welt ein Kind an Hunger gestorben. Verstehst du? Das geht doch nicht."
Uff. Wir sind noch gar nicht im Restaurant angekommen, schon duzt er einen, und alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger. Hmm. Was macht man denn nun mit solch einem Hammersatz? Der Besuch bei Jean Ziegler dauerte sechs Stunden. In derselben Zeit sind also 4320 Kinder an Hunger gestorben.
Ist es zynisch, mit solchen Zahlen zu hantieren? All die Kinder hier auf dem Papier zu einem monströsen Leichenberg aufzutürmen? Andererseits: Ist es nicht merkwürdig, dass einen der Satz, alle fünf Sekunden sterbe ein Kind an Hunger, nicht durchschüttelt? Vielleicht weil man denkt, ja nun, ich bin nicht das Weltgewissen, außerdem macht mir die Euro-Krise genug Sorgen.
Vor allem aber ist der Satz völlig aseptisch, weil abstrakt. Er vermittelt ja nicht, wie das ist, beispielsweise an Noma, einer Hungerkrankheit, zu sterben: "Erst schwillt das Gesicht des Kindes an, dann zerfrisst die Nekrose alle weichen Gewebe. Lippen und Wangen verschwinden, klaffende Löcher tun sich auf. Die Augen hängen nach unten, da der Knochen der Augenhöhle zerstört wird. Der Kiefer wird unbeweglich. Die Narbenbildung entstellt das Gesicht. Da der Kiefer blockiert wird, kann das Kind den Mund nicht mehr öffnen. Daraufhin bricht die Mutter die Zähne an der einen Seite heraus, um dem Kind eine Hirsesuppe einflößen zu können." So beschreibt Ziegler in seinem neuen großen Buch "Wir lassen sie verhungern" die Folgen dieser Krankheit, an der vor allem unterernährte Kinder zugrunde gehen ( C. Bertelsmann, 320 S., 19,99 Euro, erscheint am kommenden Montag).
Jetzt aber betritt Ziegler erst mal die kleine Dorfgaststätte, in der an diesem Mittag vornehmlich die Weinbauern des Dorfes sitzen, die ihn alle mit Handschlag grüßen, "Bonjour Jean". Er selbst hat mit seinen großen Händen, dem freundlich flächigen Gesicht, der gemütlichen Art auch unbedingt eher was von einem großväterlichen Handwerker als von einem Vizepräsidenten des beratenden Ausschusses für den UN-Menschenrechtsrat, wie sein Titel momentan lautet. Vielleicht ist all das aber auch nur Mimikry, schließlich schrieb er mal den schönen Satz: "Je radikaler die Ansichten sind, desto kleinbürgerlicher musst du aussehen."
"Ich kenn Sie doch. Sie sind diese Fernsehvisage", ruft einer
Am Nebentisch sitzen zwei blondierte Frauen und ein Mann mit onduliertem Haar, Sonnenbrille und blütenweißem Hemd, die ab und an herüberschauen. Und während Ziegler sagt, wissen Sie, Noma, das ist ja keine biblische Plage, keine Strafe Gottes und kein medizinisches Rätsel, man braucht drei Euro, um ein Kind zu heilen, da das nicht passiert, sterben jedes Jahr 140.000 Menschen daran, ruft der Mann im Segler-Outfit plötzlich in schneidendem Ton: "Ich kenn Sie doch. Sie sind diese Fernsehvisage. Dupont? Müller? Schmidt?" Er ruft all die Namen mit feistem Grinsen, die beiden Damen ducken sich weg, eine Hand vorm Mund, ihre zuckenden Schultern verraten das unterdrückte Glucksen.
Da wechselt der Mann die Stimmlage und ruft kalt wie ein Zuchtmeister: "Herr Ziegler." Ziegler unterbricht sich. "Herr Ziegler, ich will Ihnen mal was sagen, jeder hat das Recht, Geld anzunehmen, das ihm geschenkt wird." Ziegler: "Kommt drauf an, was Sie unter Geschenken verstehen." Es geht sofort hoch her und wirkt so, als hätten die beiden die ganze Zeit zuvor ein Florett unter dem Tisch versteckt gehalten und nur darauf gewartet, damit aufeinander loszugehen.
Es wird erst klar, worum es geht, als Ziegler sagt, er stoße sich nun mal daran, "dass unser Schweizer Reichtum durch die Plünderung des deutschen Fiskus zustandekommt." Die beiden Damen seufzen pikiert auf, aber als Ziegler anfügt, der Schweizer Bundesrat tauge ja leider nichts, weil er sich nicht traue, klar Farbe zu bekennen, wird der Segler plötzlich versöhnlich. Unfähiger Bundesrat, blöder Staat, endlich was, worauf man gemeinsam schimpfen kann.
Der Mann löst den argumentativen Infight also mit rustikalem Schulterklopfen und lautem Lachen auf, um dann aber mit dieser schneidend leisen Stimme im Weggehen zu sagen: "Ziegler, reden Sie nett von uns. Sie haben mich verstanden." Wow. Was war das denn? "Das war eine kleine Kostprobe vom Schweizer Hass."
Der Soziologe Jean Ziegler ist zum einen Hungerexperte. Seit er Mitte der Siebzigerjahre aber die Schweizer Banken erstmals als die "Hehler" des kapitalistischen Systems beschrieb und die Schweiz als ein "von Banken und Banditen beherrschtes Disneyland", gilt er vielen Eidgenossen auch als oberster Landesverräter und Nestbeschmutzer. Er machte es seinen Feinden insofern leicht, als er es in diesen Streitschriften oft nicht so genau nahm mit den Zahlen. Und als er darin extrem polemisch formulierte.
Ziegler hat haufenweise Drohbriefe bekommen und stand unter Polizeischutz, ein Metzger schickte ihm einen Strick, mit dem er sich doch bitte aufhängen solle. Später wurde er mit Schadenersatzklagen überzogen, allein das Buch "Die Schweiz wäscht weißer" zog neun Prozesse nach sich, die er verlor. Ziegler wurde verurteilt zu insgesamt 6,6 Millionen Franken Schadenersatz.
Jetzt aber ist es Ziegler, der auf einen Zahlenfehler hinweist: "Ihre Rechnung stimmt übrigens nicht mehr." "Welche Rechnung?" "Die mit den Toten. Die Situation hat sich so dramatisch verschlimmert in den letzten Monaten, im Sahel, am Horn von Afrika. Momentan stirbt alle drei Sekunden ein Kind an Hunger. Obwohl wir genug hätten für zwölf Milliarden Menschen. Der absolute Wahnsinn. Lassen Sie uns spazieren gehen."
Alle drei Sekunden. Für das Lesen dieses Textes heißt das: Satz für Satz ein Kind. Klingt das brutal? Ziegler ist in seinem neuen Buch noch viel härter, er zieht mit der rhetorischen Stalinorgel ins Gefecht: die kriminellen Banker, die Räuber des globalisierten Finanzkapitals, die auf Grundnahrungsmittel Wetten abschließen. Der Dschungel-, Killer-, Raubtierkapitalismus. Und dazu die grauenhaft inkompetenten maroden Großinstitutionen.
Die Hungerkrankheit Noma wird von der WHO ignoriert
Nur ein Beispiel, eines von Hunderten, die er zusammenträgt: Noma, die grässliche Hungerkrankheit. Wird von der WHO ignoriert. Weil die sich nur mit zwei Arten von Krankheiten beschäftigen soll: denen, die ansteckend sind und denen, bei denen ein Mitgliedsland um Hilfe bittet. Da Noma weder ansteckend ist, noch je ein Mitgliedsland ihretwegen Hilfe erbat, existiert die Krankheit auf der Liste der WHO gar nicht.
Ziegler fuhr nach Bern, "um das Bundesgesundheitsamt auf das Problem hinzuweisen. Der hohe Beamte, der uns empfing, weigerte sich, in der Weltgesundheitsversammlung eine entsprechende Resolution einzubringen, was er wie folgt begründete: ,Auf der Kontrollliste sind schon zu viele Krankheiten.'" Das sind die stärksten Momente dieses hervorragend recherchierten Buchs. Wenn er ganz ruhig den Irrsinn ausstellt. Viel stärker, als wenn er rumpoltert wie Kapitän Haddock.
Ziegler weiß deshalb so genau, wovon er spricht und schreibt, weil er acht Jahre lang UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war. Geradezu rastlos reiste er in dieser Funktion in die Notgebiete der Welt, sah den Hunger und schrieb und schrie dagegen an. Polemisch? "Na klar, sonst hört's ja keiner." Aber macht ihn das nicht fertig? Es hungern heute mehr Menschen als 2002, als Ziegler sein Amt antrat.
Ziegler bleibt abrupt stehen und schaut so verdutzt, als sei das eine absurde Frage. "Man darf doch nie fragen, was die Früchte der Bäume bringen, die man pflanzt." Dann geht er weiter, die Hände auf dem Rücken, die Weinberge runter, in Richtung französische Grenze.
Die Früchte. Was seine Schweizkritik angeht, die trug tatsächlich Früchte. Wurde er in den Achtzigern noch als übler Landesverräter und unverbesserlicher Sozialist angesehen, so attestieren ihm heute sogar seine Gegner, dass er als Erster das Problem des Bankgeheimnisses aufs Tapet gebracht habe. Und er wird mittlerweile mit Preisen überhäuft, Care-Preis, Bruno-Kreisky-Preis . . .
Ziegler winkt ab. "Preise sind ganz normale Alterserscheinungen. Und unser Bankgeheimnis - Mubarak hatte 682 Millionen Franken auf Schweizer Konten deponiert. Glauben Sie, das hätte die Schweiz den Ägyptern zurückerstattet? Keinen Rappen. Bern sagt: Die neue Regierung in Ägypten muss erst mal beweisen, dass das Mubaraks Geld war und dass sie die rechtmäßigen Nachfolger sind. Da könnte ja sonst jeder kommen. Verstehst du?" Es ist so eine Art prärevolutionäres Du, dem keiner entkommt. Ansonsten siezt er einen, aber wenn's um Hunger und Ungerechtigkeit geht, müssen wir uns einreihen, verstehst du, Genosse?
Mittlerweile steht Ziegler auf einer Brücke über dem Grenzfluss Allondon und erzählt, dass der junge Dürrenmatt die im Zweiten Weltkrieg eigentlich bewachen sollte. "Aber er hat sich mit seinem Kumpan so betrunken, dass er die Brücke gar nicht erst gefunden hat."
Das Merkwürdigste: Ein Treffen mit Jean Ziegler ist nicht deprimierend. Im Gegenteil. Nicht etwa weil sich da einer selbstgerecht hinstellt, auch nicht, weil er einem predigt, sondern, weil er so irritierend optimistisch ist. Und weil man merkt, welche Lust es ihm bereitet, am Leben zu sein. Einfach immer weiterzumachen. Sich mit Skifahren, Judo, Tennis fitzuhalten, "um im Kampf zu bestehen: Entscheidend sind die Nachtsitzungen, wenn die anderen einschlummern." Seine Feinde zu ärgern, die Nahrungsmittelspekulanten, die Weltbank, die Großkonzerne.
Bei Salzburger Festspielen lud man Ziegler wieder aus
So wie im vergangenen Jahr, als er die Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen halten sollte. Auf Druck des Schweizer Sponsors Nestlé wurde er wieder ausgeladen, ein Eklat war die Folge. Die Rede aber, die ansonsten folgenlos von den schweren Gardinen irgendeines Salzburger Saals verschluckt worden wäre, wurde in Zeitungen nachgedruckt und als kleines Buch aufgelegt, ein Pendant zu Stéphane Hessels "Empört euch!"
Okay, empörend, aber gerade wieder kam diese Oxfam-Studie, dass die Lebensmittelpreise durch Klimawandel und Spekulationen explodieren werden. Das wird doch alles so dermaßen schrecklich . . . Ziegler stapft wieder bergan und redet plötzlich spanisch. Wie bitte?
"Ja. Schauen Sie nach Amerika. Die Dürre, das gibt grauenhafte Preisexplosionen. Aber der Aufstand des Gewissens wird kommen, eine neue Welt wird entstehen. ,Caminante, no hay camino, se hace camino al andar.' Antonio Machado. Spanischer Dichter. Als Franco gewonnen hatte und die geschlagenen Truppen über die Pyrenäen flohen, haben ein paar Leute den Machado gefragt, warum er denn immer noch lächle. Da hat er mit dem Gedicht geantwortet. Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen."
Ziegler funkelt sein Gegenüber an. "Verstehen Sie? Wenn Sie am 14. Juli 1789 mit Ihrem Notizblock in Paris gestanden und die Leute gefragt hätten, was das hier werde mit dem Marsch auf die Bastille - hätte ihnen auch keiner sagen können." Dann stapft er weiter den Weinberg hoch, nach Hause, ins Arbeitszimmer, wo eine Postkarte im Bücherschrank steht, die Bert Brecht mit einem Buch zeigt. Darunter steht: "B.B. bewaffnet".