Moshe Zimmermann ist einer der Herausgeber der Untersuchung "Das Amt". Er forscht an der Hebräischen Universität Jerusalem.
SZ: Worin unterscheidet sich der Antisemitismus im Auswärtigen Amt des Dritten Reiches von der Ausrottungspolitik, wie sie Adolf Eichmann praktizierte?
Zimmermann: Es ist nur die Frage der letzten Konsequenz. Die konservativen Kräfte, die im Außenministerium arbeiteten, strebten wie die offizielle NS-Politik die "Entfernung" der Juden aus Deutschland an. Die Beamten dort waren keine Nazis, sie gehörten konservativen, auch liberalen Parteien an, aber wie für die Nationalsozialisten waren Juden für sie keine Deutschen. Die Gleichberechtigung, die 1871 erreicht worden war, sollte wieder rückgängig gemacht werden.
SZ: Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, war auch der erste Außenminister der Bundesrepublik. Er sagte 1952 im Bundestag: "Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen. Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen."
Zimmermann: Diese Politik galt nicht nur für das Außenministerium, sondern auch für die gesamte deutsche Justiz, für die Schulen, die Universitäten; schließlich konnte man nicht alle hinauswerfen. Heute ginge das nicht mehr, heute würden viel strengere Maßstäbe angelegt. In den fünfziger Jahren gab es diese Bedenken nicht, da lag die Messlatte viel niedriger.
SZ: Kurt Georg Kiesinger, der im Außenministerium Ribbentrops für Rundfunkpropaganda zuständig gewesen war, konnte 1966 Bundeskanzler werden, weil er, wie eine Denunziation besagte, "die antijüdische Aktion hemmt".
Zimmermann: Ich weiß nicht, um welche Maßnahmen es sich da gehandelt haben soll. 1944 war der Holocaust in vollem Gang. Dass Männer wie Kiesinger nicht bei den letzten Grausamkeiten beteiligt waren, heißt noch lange nicht, dass sie das nationalsozialistische System nicht unterstützt hätten. Eine solche Denunziation ist kein Beweis dafür, dass Kiesinger nicht antisemitisch gewesen wäre. In dem Moment, in dem man bereit ist, Juden zu "entfernen", ist man schon auf dem Weg zur Ausrottung. Und darüber - über die Entfernung der Juden - herrschte Konsens.
SZ: Das Argument, mit dem sich Männer wie der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, im spätere Wilhelmstraßenprozess verteidigten, lautet, sie hätten Schlimmeres verhindert.
Zimmermann: Natürlich haben sie das. Viele haben wenigstens zwei Juden versteckt oder dies oder jenes unternommen, um deren Los zu erleichtern. Gleichzeitig haben sie die Politik des "Dritten Reiches" exekutiert, und diese Politik war rassistisch mit der Absicht, die Juden zu "entfernen". Der jetzt bekannt gewordene Brief Ernst von Weizsäckers zur Ausbürgerung Thomas Manns zeigt, wo er stand. Ja, Weizsäcker versuchte den Krieg zu verhindern, aber die antijüdische Politik des "Dritten Reiches" war für ihn akzeptabel.
SZ: Warum wurden die durch ihre Arbeit vor 1945 belasteten Angehörigen des Außenministeriums nach 1945 als ganz normale Beamte akzeptiert?
Zimmermann: Es ist ganz einfach: Wer nicht Angehöriger der SS oder der NSDAP gewesen war, konnte auf mildernde Umstände rechnen. Daraus wurde die Ausrede, dass man im Schmutz des "Dritten Reiches", inmitten der Gräueltaten, trotz allem anständig geblieben sei. Das Bewusstsein, dass zwischen 1933 und 1945 etwas grundsätzlich Unrechtes geschehen ist, kam erst in den siebziger Jahren auf.
SZ: Plötzlich taucht ein gespenstisches Dokument auf, eine Reisekostenabrechnung, in der Franz Rademacher als Grund für eine Reise nach Belgrad ganz offen die "Liquidation von Juden" anführt.
Zimmermann: Entschuldigung, aber dieses Dokument, das bereits im Prozess gegen Rademacher benutzt wurde, ist nicht neu. Christopher Browning hat es bereits 1978 in seinem Buch über die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes bei der "Endlösung" zitiert. Es ist bezeichnend, dass Brownings Buch erst jetzt, nach dreißig Jahren, ins Deutsche übersetzt worden ist. Rademacher stand nach dem Krieg als Hauptverdächtiger vor Gericht. Was er getan hat, war unbestreitbar und grausam genug, aber er galt trotzdem nur als marginale Figur. Die Haupttäter waren im ersten Nürnberger Prozess verurteilt worden, und Rademacher galt als Mitglied der Funktionselite, die sich keiner größeren Verbrechen schuldig gemacht hatte.
SZ: Schlimmer noch, er lebte unbehelligt in Syrien und arbeitete dort für den Bundesnachrichtendienst.
Zimmermann: Weil man ihn kannte und um seine Fähigkeiten wusste, die er zum Beispiel bei der Entwicklung des "Madagaskarplans" beweisen hatte. Auch die Amerikaner drückten gern ein Auge zu, wenn es um Kriegsverbrecher ging, und leider auch der israelische Geheimdienst, der sich beispielsweise Walter Rauff, den Beauftragte für die Ermordung der Juden Palästinas, zunutze machte. Dabei war Rademacher keine Spur besser als Adolf Eichmann.
SZ: Die Kritik an der zumindest personellen Kontinuität des "Dritten Reiches" hat sich lange auf die Person Hans Globke konzentriert, den Staatssekretär Adenauers, der 1936 den maßgeblichen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen formuliert hatte. Andererseits beförderte Globke die Wiedergutmachung, die die Bundesrepublik Deutschland an Israel leistete.
Zimmermann: David Ben Gurion, der israelische Ministerpräsident, prägte damals den Satz: "Es gibt kein anderes Deutschland." So war auch die Haltung in Israel: Man darf da nicht so pingelig sein. In Israel wusste man noch viel weniger als in Deutschland Bescheid über die tiefe Verstrickung der konservativen Eliten in die "Endlösung". Das Interesse hat sich auf so gruselige Figuren wie Eichmann, Mengele und Demjanuk konzentriert. Andere, die mindestens genauso daran beteiligt waren, wurden gar nicht wahrgenommen.