Atommüll:Schweizer Entscheidung löst "großes Erstaunen" aus

Lesezeit: 2 min

Hier in der Schweizer Gemeinde Stadel soll 850 Meter tief in den Boden gegraben werden, um den Atommüll zu deponieren. (Foto: Michael Buholzer/dpa)

Die Schweiz will ihr atomares Endlager in Nördlich Lägern bauen, nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Dort ist man nicht begeistert - und auch überrascht: Der Standort war schon einmal ausgesiebt worden.

Von Isabel Pfaff, Bern

Seit fast vier Jahrzehnten, ähnlich lange wie Deutschland, sucht die Schweiz einen Standort für die Lagerung ihres Atommülls. Insgesamt fünf Atomkraftwerke versorgten die Schweizerinnen und Schweizer mit Strom, vier sind noch in Betrieb. Jetzt ist die Entscheidung gefallen: In "Nördlich Lägern", im Grenzgebiet zwischen den Kantonen Zürich und Aargau, unweit der Grenze zu Deutschland, soll das Schweizer Endlager für radioaktive Abfälle gebaut werden. Es sei der sicherste Standort für ein Tiefenlager, teilte die für die Suche zuständige Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) am Samstag mit: "Die Geologie hat gesprochen", sagte Nagra-Chef Matthias Braun dem Schweizer Radio SRF.

Eigentlich wollten die Nagra - ein Zusammenschluss der Schweizer Verursacher von Atommüll - und das eidgenössische Bundesamt für Energie der Öffentlichkeit erst an diesem Montag mitteilen, auf welchen Standort die Wahl gefallen ist. Doch weil die Behörden viele direkt Betroffene vorab informiert hatten, sickerte der Beschluss durch und sowohl Nagra als auch Bundesamt bestätigten ihn.

Damit sind die zwei anderen möglichen Standorte "Zürich Nordost" und "Jura Ost" bis auf Weiteres aus dem Spiel. Alle drei Gebiete liegen in der Nordschweiz und nahe an der deutschen Grenze. Die Region hatte sich schon vor Jahren als am besten geeignet für ein atomares Endlager herausgestellt, weil sich dort im Untergrund sogenannter Opalinuston befindet: ein Gestein, das kaum wasserdurchlässig ist und sich deshalb für die sichere Einlagerung radioaktiver Abfälle anbietet.

Der Bürgermeister der Gemeinde Hohentengen nimmt die Entscheidung "mit großem Erstaunen" zur Kenntnis

Nun herrscht Aufregung in der betroffenen Region - nicht zuletzt auf deutscher Seite, wo die Gemeinden zwar seit Jahren in den Findungsprozess involviert sind, aber letztlich nicht mitbestimmen können. Man nehme die Entscheidung "mit großem Erstaunen" zur Kenntnis, schreibt Martin Benz, Bürgermeister der Gemeinde Hohentengen, in einer Mitteilung, die der SZ vorliegt. Nur gut zwei Kilometer liegen zwischen dem geplanten Lager und seiner Gemeinde, der Umschlagplatz für Anlieferungen und Abtransporte liegt laut Benz sogar nur 650 Meter von den Wohngebieten entfernt.

Am meisten beunruhigt Benz jedoch, dass die Nagra den Standort Nördlich Lägern 2015 schon einmal aus der engeren Auswahl herausgenommen hatte. Tatsächlich wollte diese die Bohrungen dort nicht fortsetzen, weil die geeignete Gesteinsschicht dort tiefer liegt als bei den anderen beiden Standorten. Nach Intervention der Nuklearaufsichtsbehörde des Bundes musste die Nagra jedoch diesen Entscheid revidieren. 2020 teilte sie mit, dass der Bau eines Tiefenlagers auch in Nördlich Lägern, bei 900 Metern Tiefe, machbar sei.

"Wir erwarten eine schlüssige und ausführliche Begründung, weshalb es der Standort Nördlich Lägern vom ehemals zurückgestellten Standort hin zum präferierten Standort schaffen konnte", schreibt der Bürgermeister von Hohentengen nun. Am Telefon fügt er hinzu: "Das Vertrauen in die Nagra ist aufgrund dieser Vorgeschichte nicht da." Man werde die Begründung der Schweizer Behörden deshalb auf jeden Fall durch deutsche Experten prüfen lassen.

Ähnlich äußert sich auch die deutsche Regierung. Die grenznahe Lage des Standorts "stellt sowohl in der Errichtungsphase als auch beim Betrieb des Endlagers für diese und umliegende Gemeinden eine große Belastung dar", so Christian Kühn, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg. Die Expertengruppe Schweizer Tiefenlager (ESchT) werde nun im Auftrag des Ministeriums eine Einschätzung zur Nachvollziehbarkeit des Standortvorschlags erstellen und ihn bewerten. Die Expertengruppe begleitet die Schweizer Endlagersuche seit 2006 von deutscher Seite aus.

Auch die baden-württembergische Umweltministerin Thekla Walker kündigte am Sonntag eine "vertiefte" Überprüfung der Schweizer Pläne an. Der Standort Nördlich Lägern mit seiner unmittelbaren Grenznähe, so Walker, "führt unübersehbar vor Augen, dass die angrenzende baden-württembergische Bevölkerung einen großen Beitrag zur Endlagerung des schweizerischen Atommülls leistet." Sie erwarte deshalb eine grenzüberschreitende Beteiligung am weiteren Verfahren.

Ob der Widerstand gegen die schweizerische Entscheidung anschwellen wird, hängt auch von diesem Montag ab. Dann werden die Nagra und die politisch Verantwortlichen in Bern ihren Beschluss ausführlich begründen und sich den Fragen der Öffentlichkeit stellen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: