Die Republik Sierra Leone liegt am Ende eines langen Ganges neben dem Putzraum. Wer eintritt, steht einer Gruppe hoher Beamter gegenüber, hinter einem Tisch sitzen dort: der höchste Passbeamte Sierra Leones, der Botschafter des Landes in Deutschland, fünf sierra-leonische Mitarbeiter. Einer zeigt auf einen einzelnen leeren Stuhl. John Kanu, 36, nimmt Platz.
Asylbewerber John Kanu wird seit Jahren von deutschen Behörden vorgeladen, die mit Hilfe von Beamten aus Sierra Leones versuchen, ihm die dortige Staatsbürgerschaft zuzuweisen. Erst mit einem gültigen Pass könnte er abgeschoben werden.
(Foto: Carsten Koall/www.carsten-koall.)Die Berliner Ausländerbehörde hat den Raum an diesem Vormittag zu extraterritorialem Gebiet erklärt, nur dreißig Quadratmeter Westafrika. Doch vielleicht wird sich John Kanu, der heute um sechs in seiner Asylbewerberunterkunft in Thüringen aufgebrochen ist und jetzt seine dicke Jacke nicht auszieht, schon bald im Original wiederfinden - wenn die Beamten zu dem Schluss kommen, dass er ein Landsmann ist.
Außer John Kanu sind an diesem Tag weitere 88 Asylbewerber vorgeladen, solche Anhörungen finden regelmäßig statt. Die Bundespolizei lässt dafür mittlerweile fast monatlich Beamte aus Ländern wie Kamerun, Guinea, Vietnam oder China einfliegen - Länder, aus denen wahrscheinlich viele Asylsuchende stammen. Denn die deutschen Ausländerbehörden haben ein Problem: Nur wenige Flüchtlinge tragen Dokumente bei sich, aus denen sich ihr Herkunftsland ablesen lässt. In vielen Ländern Afrikas zum Beispiel sind staatliche Identitätspapiere eine Seltenheit, Pässe werden nur bei Bedarf ausgestellt. Und die paar Flüchtlinge, die Papiere haben, vernichten diese oft, sobald sie am Ziel sind.
Manche haben das ihnen zugewiesene Heimatland noch nie betreten
Aber wer keinen Pass hat, kann auch nicht abgeschoben werden. In Deutschland sind das gerade Tausende. Um ihnen ausländische Papiere zu beschaffen, muss sich der deutsche Staat helfen lassen - daher das Stück westafrikanisches Territorium in der Ausländerbehörde, deshalb die eingeflogenen Beamten. Insgesamt 1053 "Sans papiers", also Papierlose, wurden ihnen im vergangenen Jahr vorgeführt. Oft stellen diese auch dann Papiere aus, wenn die Asylbewerber beteuern, sie hätten das ihnen zugewiesene Heimatland noch nie betreten.
Heute ist John Kanu dran. Von den sierra-leonischen Beamten wird er prüfend angesehen, dann hebt eine Frau in sehr weichem, freundlichen Tonfall zur ersten Frage an, in der Landessprache Krio: Wer denn sein Vater sei? Draußen in der Berliner Herbstsonne hat Kanu seinen Begleiter zwar im Unklaren gelassen, ob er schon mal in Sierra Leone war. Aber er hat noch gesprochen und über Hunde gelacht, denen in Deutschland Jäckchen angezogen werden. Jetzt schweigt er.
Wenn der Sprecher der Bundespolizei, Jens Schobranski, sagt, dass die deutschen Asylgesetze ohne solche Gegenüberstellungen oft ins Leere laufen würden, dann ist John Kanu sicher kein schlechtes Beispiel: Eigentlich muss er die Bundesrepublik binnen eines Monats verlassen - schon seit 2001. Er hat keinen Pass, konnte deshalb nie abgeschoben werden.
John Kanus Fall zeigt aber auch, wieso eine wachsende Anzahl von Gerichten Zweifel an der Seriosität der Pass-Beschaffung anmeldet. John Kanu sitzt heute nicht zum ersten, sondern bereits zum dritten Mal vor afrikanischen Gastbeamten. 2003 hatten Beamte aus Sierra Leone befunden, er sei kein Landsmann, sein Akzent klinge eher nigerianisch; 2004 jedoch wiesen das Delegierte aus Nigeria mit Bestimmtheit zurück: Keinesfalls sei er ein Landsmann, keinesfalls könne er nach Nigeria abgeschoben werden.