Asylbewerber:Drei Schicksale an einem Tag

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Staatliche Asylprüfer arbeiten derzeit am Limit. Sie müssen alleine die Entscheidung fällen, ob ein Flüchtling bleiben darf oder nicht. Manche Geschichten lassen die Prüfer nicht mehr los. Ein Besuch.

Von Jan Bielicki, Düsseldorf

Ein Glas Wasser steht jedes Mal da. Auf dem aufgeräumten Teil des Schreibtisches von Dirk van Führen, dort wo der Stuhl steht, auf den sich der Antragsteller gleich setzen wird. Das gefüllte Glas ist eine Geste, die Vertrauen schaffen soll, und, so erklärt van Führen, "dieses Über- und Unterordnungsverhältnis abbauen". So gut es eben geht, zwischen einem wie ihm, für den solche Gespräche Berufsalltag sind, und einem, dem das alles fremd ist, die Amtsstube, die Sprache, das Land, einem Menschen, "der nur weiß: Heute geht's um alles."

"Ich bin Ihr Entscheider", stellt sich van Führen dem Eintretenden vor, "ich allein entscheide über Ihren Asylantrag." Der Dolmetscher, der an der Seite des Tisches Platz genommen hat, übersetzt ins Albanische. Der Mann, der van Führen mit verschränkten Armen gegenübersitzt, kneift sich nervös in den Oberarm und lächelt schüchtern. Schon sein Lächeln verrät, wie es ihm geht: Einige Zähne fehlen dem 40-Jährigen bereits, andere stehen krumm. Der Mann ist arm. Aus einem kleinen Dorf im Nordosten Albaniens hat er sich mit Ehefrau und zwei kleinen Kinder auf den Weg nach Deutschland gemacht und hier Asyl beantragt. An diesem Morgen hat ein Bus die Familie aus der Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Dortmund in ein Düsseldorfer Gewerbegebiet gebracht. Dort, zwischen Autohändler und Fitnessstudio, ist im dritten Stock eines Bürogebäudes eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge untergebracht: ein lang gestreckter Wartesaal, voll mit Frauen, Männern und Kindern vieler Nationalitäten, dahinter Büros wie das von Dirk van Führen. Zwanzig Entscheider befragen hier täglich bis zu 60 Menschen nach den Gründen ihres Asylbegehrens.

Van Führen ist der Erfahrenste von ihnen. Vor zwei Jahren, so scherzt er, hat er Silberhochzeit mit dem Amt gefeiert. Seit 27 Jahren ist er also dabei. Er hat schon in Jordanien die Auswahl von Flüchtlingen für die Aufnahme in Deutschland organisiert; die Fotos der Menschen und Landschaften, die er damals gemacht hat, hängen an den Wänden. Tausende Fälle hat der 51-Jährige entschieden, und der Fall des Mannes aus Albanien ist für ihn, so sagt er, "Standard".

Derzeit warten etwa 220 000 Asylbewerber auf eine Entscheidung: hier ein Syrer, der neben die deutsche Fahne "Danke" auf Arabisch geschrieben hat. (Foto: Ina Fassbender/dpa)

Er solle die Wahrheit sagen, nicht übertreiben, nachfragen, wenn er etwas nicht verstehe, belehrt van Führen sein Gegenüber. Er hat sich ein Mikrofon über den Kopf gezogen, mit dem er das Gespräch via Spracherkennung in den Computer protokolliert. Auf dem Bildschirm schimmert eine Liste mit einem Dutzend Standardfragen - Pass, letzter Wohnort, solche Sachen. Van Führen hält sich selten daran. Offene Fragen, die Antragsteller selber erzählen lassen, das sei wichtig, um sich ein Bild zu machen, sagt er.

Der Mann aus Albanien antwortet stockend. Warum er gekommen ist? Daheim habe er "keine Arbeit, kein Haus, nichts", übersetzt der Dolmetscher. Zwei Kühe hatte er, die habe er nun verkauft, als er und seine Frau sich entschlossen, nach Deutschland zu fahren. "Es ist wegen der Kinder", sagt er und zeigt auf seine Brust, dorthin, wo das Herz ist. Eines der Kinder sei krank, Epilepsie hätten die Ärzte in Tirana festgestellt. Van Führen hakt nach. Ja, sagt der Familienvater, mit Medikamenten werde seine Tochter versorgt.

Es wirkt alles ehrlich, was er sagt. Nur: Von politischer Verfolgung oder der Verletzung von Menschenrechten hat er nicht gesprochen. Nun weiß van Führen, dass es viele Gründe gibt, warum die Leute, die ihm gegenübersitzen, nicht alles sagen. Manche sind es nicht gewohnt zu sprechen, manche eingeschüchtert, manche traumatisiert. "Aber ich kann nur über das entscheiden, was vorgetragen wird", sagt van Führen. 25 Minuten nur dauert diese Anhörung, zehn Minuten die Rückübersetzung des Protokolls. Der Mann wird bald Post bekommen. Van Führen wird seinen Antrag ablehnen. Armut ist kein Asylgrund. Nur 13 von mehr als 16 000 Albanern haben die Entscheider vom Amt in diesem Jahr zugestanden, wenigstens vorerst Schutz zu erhalten. Doch diese vermeintliche Eindeutigkeit birgt auch eine Gefahr: "Du kannst dich durch tausend unbegründete Asylfälle arbeiten, aber du darfst nie deine Offenheit verlieren." Der tausendunderste Fall könnte durchaus sehr wohl begründet sein.

Van Führen erinnert sich an einen Transsexuellen aus Mazedonien, eingestuft als sicheres Herkunftsland. Dieser war vielerlei Diskriminierungen ausgesetzt, jede einzelne nicht genug, um Asyl zu begründen, in ihrer Häufung aber schon. Der Entscheider erkannte ihn als Flüchtling an.

Das wird er auch im zweiten Fall dieses Tages tun. "Ein bisschen nervös" sei er, sagt der junge Mann aus Syrien auf Englisch. "Sie sind hier sicher", beruhigt ihn van Führen. "Ich weiß", sagt der Mann. Modischer Kurzhaarschnitt, ein selbstbewusstes Lächeln. Der Vater besitzt ein Möbelgeschäft in Kuwait, der Sohn floh aus Syrien in den Libanon, nachdem er, so sagt er, an Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen hatte und zum Militärdienst einberufen wurde. Dank Beziehungen und Bestechungsgeld konnte der 29-Jährige sogar noch einmal zurück, um sein Tiermedizin-Studium abzuschließen. Er sei aber verhaftet und in der Haft beschimpft, misshandelt, gefoltert worden. Van Führen fragt nicht weiter nach. Der Fall ist klar: In Syriens Bürgerkrieg ist jeder in Gefahr, von irgendeiner Seite verfolgt zu werden, und einer, der sich weigert, für die Macht des Diktators zu sterben, natürlich erst recht.

Die Geschichten der Opfer, die Schlimmstes erlebt haben, lassen ihn nicht so leicht los

Bei Asylbewerbern aus anderen Staaten ist es oft nicht so klar, dass sie tatsächlich verfolgt wurden. Bei ihnen hätte van Führen genauer nach den Hafterlebnissen gefragt - wenn auch vorsichtig: "Können Sie darüber sprechen?" Schließlich ist die Gefahr einer Re-Traumatisierung groß, wenn Menschen vor einem Fremden die schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens noch einmal im Detail nachvollziehen müssen. Lieber fragt er dann nach anderen Einzelheiten: Wie sie frei kamen etwa, oder warum sie im Visier der Machthaber waren? Anhörungen von Asylbewerbern aus Iran oder Afghanistan, wo die Motive der Flucht eben nicht offensichtlich sind, dauern oft zwei, drei Stunden.

Es sind die Schilderungen dessen, "was Menschen fähig sind, anderen Menschen anzutun", die Dirk van Führen am meisten belasten in seinem Beruf, den er sonst so schätzt. Andererseits beeindrucke ihn immer wieder die Kraft und die Würde der Opfer, auch Schlimmstes zu ertragen. Es gibt eine Handvoll solcher Fälle, sagt er, "die nehme ich mit nach Hause". Ihm selbst hilft dann die Gewissheit, "dass ich selber helfen konnte, dass diese Menschen hier Schutz erhalten". Er hat kürzlich wieder an den Gruppensitzungen mit Therapeuten teilgenommen, die das Amt seinen Entscheidern anbietet: einmal im Monat - das sei auch für einen Mann mit seiner Erfahrung "unglaublich wertvoll", gerade jetzt, da die bundesweit 393 Entscheider angesichts der Flüchtlingszahlen am Limit arbeiten.

Bei Flüchtlingen aus Syrien freilich entscheiden sie derzeit ohnehin fast nur nach Aktenlage, ohne persönliche Anhörung - zu eindeutig ist der Anspruch der Syrer auf Schutz. Allenfalls interessiert van Führen noch der Fluchtweg, womöglich müsste ein anderes Land das Asylverfahren übernehmen. Der junge Tierarzt erzählt, wie er mit Hilfe von Schleusern über die Türkei im Schlauchboot auf eine griechische Insel floh, zu Fuß über die Grenze nach Mazedonien, dann via Serbien, Ungarn, Österreich nach München. Nach Griechenland, wo ihm die Fingerabdrücke genommen wurden, dürfen deutsche Behörden keine Asylbewerber abschieben. Ungarn würde schriftliche Belege für eine Durchreise verlangen. Die gibt es nicht. Dirk van Führen wird dem jungen Mann demnächst schreiben: Er wird bleiben dürfen.

© SZ vom 27.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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