Anschläge der Boko Haram:Bombenterror radikaler Islamisten erschüttert Nigeria

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Es sind die bislang blutigsten Anschläge der radikalislamische Sekte Boko Haram: Mehr als hundert Menschen sterben in Nigeria nach einer koordinierten Anschlagsserie. In der Millionenstadt Kano wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Einen Tag nach den verheerenden Bombenanschlägen in der nigerianischen Stadt Kano ist die Zahl der Toten auf mindestens 165 gestiegen. Das berichten Zeugen in den Krankenhäusern. Die Nachrichtenagentur AFP berichtete unter Berufung auf einen Mitarbeiter einer Leichenhalle von mehr als 160 Leichen. Mitarbeiter von Krankenhäusern berichteten, noch immer würden Tote in den Leichenhäusern abgeliefert. Die Behörden hatten zunächst nur sieben Tote bestätigt.

Ziele der Anschlagsserie waren das Polizeihauptquartier sowie drei weitere Polizeistationen in der zweitgrößten Stadt Nigerias. Den Bombenexplosionen seien Feuerüberfälle auf Polizisten gefolgt, die zurückgeschossen hätten, sagte ein Vertreter der städtischen Sicherheitskräfte.

Die Behörden hatten daraufhin am frühen Freitagabend eine 24-stündige Ausgangssperre über die Millionenstadt verhängt. Am Samstagmorgen waren noch Schüsse zu hören. Der BBC-Reporter Mark Doyle beschreibt die Situation vor Ort in Kano als "extrem nervös". Die Armee patrouilliere die Straßen, Blockaden seien errichtet worden.

Zu den Anschlägen bekannte sich die radikale islamische Sekte Boko Haram. Die Angriffe seien eine Vergeltung dafür, dass die Regierung sich geweigert habe, inhaftierte Mitglieder von Boko Haram freizulassen, sagte ein Sprecher der Sekte der Zeitung Daily Trust. Bestätigen sich die Opferzahlen, wären dies die bislang folgenschwerste Anschläge der Terrorgruppe. Boko Haram hatte erst an Weihnachten bei mehreren Bombenattacken auf Kirchen insgesamt mehr als 50 Menschen getötet.

Nigerias Präsident Goodluck Jonathan bezeichnete die Gewalt der Boko Haram vor kurzem als "schlimmer als der Bürgerkrieg". Im Biafrakrieg Ende der Sechziger Jahre starben etwa eine Million Menschen. Von solchen Ausmaßen ist der Terror der Boko Haram zwar noch weit entfernt, doch heute sei die Herausforderungen komplizierter, zitieren nigerianische Medien den Präsidenten. Denn damals hätten die Nigerianer gewusst, "woher der Feind kam".

In der Tat ist nicht viel über die islamistische Sekte bekannt. Sicher ist nur, dass sie zur größten Bedrohung für die Sicherheit in Nigeria geworden ist. Allein im vergangenen Jahr soll die Miliz mehrere hundert Menschen getötet haben. Die Hintermänner bleiben im Dunkeln, doch Boko Haram scheint weit besser organisiert, als der Staat anfangs dachte.

Die Terrorgruppe hat ihre Basis im Norden Nigerias und orientiert sich an den afghanischen Taliban. Sie fordert die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, im ganzen Land und geißelt den wachsenden Einfluss des Westens in Nigeria. Boko Haram heißt übersetzt "Westliche Bildung ist Sünde".

Die Sekte hat schon wiederholt Regierungsbüros, Polizeistationen und sogar ein UN-Büro attackiert. Häufig waren auch Kirchen Ziele von Anschlägen. Christen sprechen schon lange von einer "Kriegserklärung" seitens der Islamisten.

Nigeria wird nahezu zur Hälfte von Christen und Muslimen bewohnt, doch die Spannungen dürften über einen Religionskonflikt hinausgehen: Die Anschläge erscheinen wie der Versuch einer gewaltbereiten Gruppe, das bevölkerungsreichste Land des Kontinents ins Chaos zu stürzen.

Der Konflikt hatte mit blutigen Anschlägen an Weihnachten einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, geht aber Jahre zurück:

[] Juli 2009: Etwa 700 Menschen kommen ums Leben, als es in der nordöstlichen Stadt Maiduguri zu Ausschreitungen von Boko-Haram-Mitgliedern kommt und Sicherheitskräfte die Unruhen niederschlagen.

[] 7. September 2010: Sektenmitglieder befreien 700 Gefangene aus einem Gefängnis im nigerianischen Staat Bauchi.

[] 25. Dezember 2010: Bei einer mutmaßlich von der Sekte verübten Anschlagsserie in der zentralnigerianischen Stadt Jos kommen mindestens 80 Menschen ums Leben.

[] 31. Dezember 2010: Eine der Boko Haram zugeschriebene Bombe tötet in einem Biergarten bei einer Kaserne in der Hauptstadt Abuja mindestens vier Menschen.

[] 28. Januar 2011: Bewaffnete Sektenmitglieder erschießen den führenden Kandidaten für die Gouverneurswahl im Staat Borno sowie sechs seiner Begleiter.

[] 9. April 2011: Boko-Haram-Milizen stecken das International Hotel in Maiduguri in Brand und töten vor den Kommunalwahlen einen Politiker.

[] 16. Juni 2011: Eine Autobombe vor dem Hauptquartier der Staatspolizei tötet zwei Menschen.

[] 26. August 2011: Ein Mitglied von Boko Haram lässt vor dem regionalen Hauptquartier der Vereinten Nationen in Abuja ein mit Sprengstoff beladenes Auto explodieren: 24 Tote und 116 Verletzte.

[] 4. November 2011: Sektenmitglieder verüben Bombenanschläge auf Regierungsgebäude und ziehen schießend durch die Stadt Damaturu, mindestens 100 Menschen kommen ums Leben. In der Stadt Maiduguri, dem spirituellen Sitz der Sekte, werden vier weitere Menschen bei Anschlägen getötet.

[] 22. bis 24. Dezember: Bei Kämpfen zwischen Sektenmitgliedern und Sicherheitskräften werden in der Umgebung der Stadt Damaturu mindestens 61 Menschen getötet.

[] 25. Dezember 2011: Am Weihnachtstag explodieren Sprengsätze vor mehreren Kirchen. Dabei kommen mindestens 35 Menschen ums Leben.

Vor kurzem sprach Präsident Jonathan erstmals davon, dass es auch in der Regierung, der Polizei und in der Justiz Sympathisanten der Terrorgruppe gebe. Die Terrorgruppe droht, den ganzen Staat zu unterwandern. Experten glauben inzwischen, dass sich die Attacken und Vergeltungsschläge aufschaukeln und so einen Flächenbrand zwischen den Religionen entfachen könnte, der Nigeria schließlich zerreißt.

© Süddeutsche.de/dpa/dapd/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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