Angela Merkel:Die Flüchtlings-Kanzlerin ist vielen fremd geworden

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Bundeskanzlerin Angela Merkel ist angeschlagen, sie hat Vertrauen eingebüßt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um Erfolge in der Flüchtlingskrise vorzuweisen. (Foto: REUTERS)

Merkels "Wir schaffen das" alleine reicht nicht mehr. Die Flüchtlingskrise könnte die Kanzlerin das Amt kosten. Eine Obergrenze wird sie sich trotzdem nicht diktieren lassen.

Kommentar von Wolfgang Krach

Angela Merkel weiß, dass sie die Flüchtlingskrise das Amt kosten kann. Und sie weiß, dass sie die Krise das Amt kosten wird, wenn sie, die Kanzlerin, ihre Politik nicht ändert. Es ist deshalb für viele nicht zu verstehen, warum Merkel trotzdem scheinbar so stur auf ihrem Kurs beharrt.

Merkel hat, seit sie vor bald 16 Jahren den CDU-Vorsitz von Wolfgang Schäuble übernommen hat, ihre Macht zielstrebig und mit Chuzpe ausgebaut. Sie hat sich als immer wieder selbsterneuerndes, flexibles System erwiesen und sich ihrer Widersacher entledigt. Und sie hat sogar Schäuble ausgebremst, der nicht Bundespräsident werden durfte. Warum sollte Merkel diese Macht aufs Spiel setzen?

Seit Wochen wird in der Union über einen "Kanzlerinnensturz" orakelt. Merkel ist angeschlagen, ja. Sie hat Vertrauen eingebüßt. Sie hat Menschen enttäuscht und wütend gemacht. Es mag sein, dass sie dauerhaft beschädigt bleibt. Doch reicht das dafür, dass sie ihr Amt verliert?

Im September hat Merkel ein Chaos auf der Balkanroute verhindert

Die Kanzlerin hat im September eine richtige Entscheidung getroffen. Sie ließ Tausende Flüchtlinge nach Deutschland, die unter elenden Umständen in Ungarn campierten. Anders als viele der Hinterher-Besserwisser (à la Seehofer) glauben machen wollen, war dies auch eine Entscheidung für Deutschland, weil sie ein Chaos auf der Balkanroute verhinderte - mit unkalkulierbaren Folgen für die Bundesrepublik. Merkels Fehler war nicht, die Schengen-Regeln an jenem Wochenende aufgehoben, sondern in den Monaten danach hieran nichts mehr geändert zu haben.

Hunderttausende Menschen sind seitdem nach Deutschland gekommen. Ihnen ist nicht zu verdenken, dass sie geflohen sind - vor Krieg, Verfolgung oder Armut. Aber viele von ihnen haben unterwegs ihre Pässe vernichtet, damit man nicht weiß, woher sie stammen - in der Hoffnung, dann eher in Deutschland bleiben zu können. Etliche haben sich mehrere Identitäten zugelegt, um vielleicht doppelt Sozialhilfe zu kassieren.

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Merkels Antwort auf all das lautet seit Monaten: "Wir schaffen das." Doch der anfängliche Stolz und die Zuversicht vieler Bürger, mit der großen Zahl an Migranten zurechtzukommen, sind nun, da mehr als eine Million Flüchtlinge hier sind, oft Angst und Wut gewichen. Merkels "Wir schaffen das" wirkt wie eine Beschwörungsformel, unter der Probleme erstickt werden sollen. Es gibt Eltern, die unbedingt wollen, dass ihr Kind Abitur macht. Sie sagen ihm immer wieder: "Du schaffst das". Doch wenn das Kind merkt, dass das nicht stimmt, wird die vermeintliche Ermunterung alsbald zur Phrase, vielleicht zur Demotivation oder Bürde gar.

So ähnlich ergeht es Hunderten Bürgermeistern und Landräten, landauf, landab. Mit oft unermüdlichem Einsatz mühen sie sich seit Monaten, Unterkünfte für Flüchtlinge zu schaffen. Doch sie wissen inzwischen nicht mehr, wo sie noch suchen sollen. Besonders viele dieser Politiker gibt es übrigens in der CSU, die nicht nur aus dem wütenden Horst Seehofer besteht, sondern auch aus Praktikern, die hervorragende Arbeit leisten. Besonders die haben sich von Merkel entfremdet.

Auch Teilen des Wahlvolks ist die Kanzlerin fremd geworden. Es gibt Eltern, die jahrelang dafür gekämpft haben, dass die Schule ihrer Kinder mehr Lehrer erhält - vergebens. Jetzt, wegen der Flüchtlinge, geht es plötzlich. Das verstört. Warum, fragen sich manche, dürfen wir darüber abstimmen, ob wir eine Umgehungsstraße oder eine dritte Startbahn am Flughafen haben wollen, aber nicht darüber, ob auf dem für Einheimische vorgesehenen Baugrundstück nebenan jetzt Flüchtlingscontainer aufgestellt werden?

Das sind keineswegs nur Fragen für Stammtische. Und wer sie stellt, ist nicht automatisch ein "Rechter", sondern vielleicht ein SPD-Wähler, der ein Recht hat auf Antwort.

Merkel hat versäumt, auf etliche dieser Fragen ausreichend einzugehen. Natürlich ist es richtig, dass wegen der Flüchtlinge Lehrer eingestellt, Turnhallen belegt und Container errichtet werden. In anderen Ländern gab es das schon lange. Deutschland hat in den vergangenen 30 Jahren (mit Ausnahme der Zeit der Balkankriege) bequem mit vergleichsweise wenigen Flüchtlingen gelebt. Das Problem wurde an die EU-Außengrenzen, nach Italien und Griechenland, abgeschoben. Doch die Bereitschaft, plötzlich eine so große Zahl aufzunehmen, zeigen viele nur, wenn sie wissen, dass das ein Ausnahmefall ist - und nicht eine Ausnahme, die bleibt.

Um das zu erreichen, wäre jedoch eine europäische Flüchtlingslösung nötig. Das Problem ist die Zeit. Merkel hat noch 43 Tage, um bis zu den drei Landtagswahlen im März Erfolge vorzuweisen - um zu zeigen, dass die Flüchtlingszahl deutlich zurückgeht.

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Merkel hat den Widerstand aus den eigenen Reihen lange unterschätzt

Helmut Schmidt verlor seine Kanzlerschaft, nachdem er den Nato-Doppelbeschluss gegen den Willen seiner Partei verteidigt hatte. Gerhard Schröder musste abtreten, weil er mit seiner Agenda 2010 die SPD gegen sich aufbrachte. Auch Merkel hat den Widerstand aus den eigenen Reihen lange unterschätzt. Aber sie wird, anders als Schmidt und Schröder, nicht das Risiko eines Machtverlusts eingehen.

Wenn es nicht bald eine europäische Einigung über die Verteilung von Flüchtlingen gibt (und dafür spricht im Moment wenig), wird sie sich von der CSU zwar keine Obergrenze diktieren lassen - auch weil sie ihre "heroische" Rolle als Flüchtlings-Kanzlerin nicht gefährden will, die ihr die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger diese Woche im Bundestag bescheinigt hat. Aber Merkel wird weitere administrative Abschreckung vorantreiben, wie jetzt im "Asylpaket II" vereinbart: Einschränkungen beim Familiennachzug, später vielleicht doch "Transitzonen" oder "Einreisezentren". Und notfalls mehr.

Merkel waren Parteivorsitz und Kanzleramt stets wichtiger als das Rechtbehalten. Wenn der Preis für das Amt sein sollte, Deutschlands Grenzen für Flüchtlinge faktisch zu schließen, wird Merkel dies am Ende mittragen. Ihre Hoffnung dabei könnte sein, dass angesichts des horrenden auch wirtschaftlichen Schadens eines solchen Schritts in letzter Minute auch diejenigen EU-Länder noch einlenken, die sich bislang weigern, Flüchtlinge aufnehmen. Dieses Kalkül aber wäre hochriskant.

© SZ vom 30.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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