Andreas Voßkuhle:Die Antwort auf die Krise liegt in der Mitte

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Ausgleich und Stabiltät bilden die DNA des Grundgesetzes, glaubt Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Es sei eine "Verfassung der Mitte".

Von Wolfgang Janisch

Die Flüchtlingskrise spaltet Deutschland wie schon lange nicht mehr. Die Parolen von den Rändern der Gesellschaft werden immer lauter, immer radikaler - Protest verwandelt sich in Hetze und Hohn. Und in der Mitte herrscht Stille. "Sie kommt nicht vor, sie hat keine Stimme", sagt der Kabarettist Dieter Nuhr. "Die Angst ist dort eingebrochen", sagt der Politologe Herfried Münkler.

Auf einer Gesprächsreise durch Deutschland hat die SZ nach Antworten gesucht. Derweil hat Andreas Voßkuhle, seit 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, eine ganz eigene Antwort auf die Krise formuliert. Die Mitte, dieses gesellschaftliche Terrain, an dem nun alle reißen und zerren, hat einen Garanten, der sie bewahrt und schützt: das Grundgesetz. Und das Bundesverfassungsgericht.

Die Idee der Mitte als DNA der Verfassung, das heißt: Ausgleich und Stabilität.

Mitte bedeute indes nicht, die permanenten Konflikte in der Gesellschaft zu negieren, sagte Voßkuhle am Donnerstagabend in München bei einem Vortrag der Siemensstiftung. Eine Verfassung der Mitte versuche, diese Spannungen zu internalisieren, ihre Vermittlungskonzepte böten den Gegensätzen Raum - zur Vergewisserung über die Grenzen des Gemeinwesens und die Formen des Zusammenlebens.

"Diese Offenheit wird gelegentlich als Schwäche missverstanden. Doch liegt es in der Natur der Mitte, dass sie nur von den konkreten gesellschaftlichen Gegensätzen her und damit auf der Grundlage offen ausgetragener Konflikte bestimmt werden kann." Voßkuhle sieht den Streit weniger als Bedrohung denn als Indiz für ein lebendiges Gemeinwesen. "Die Fähigkeit, Antagonismen, ja in Grenzen sogar Krisen zulassen zu können, sollte als Zeichen der Vitalität und Stabilität einer Rechtsordnung nicht unterschätzt werden."

"Die Mitte ist politisch, nicht polemisch"

Die Mitte definiert sich also von den Rändern her - was aber, wenn die nach außen strebenden Kräfte zu stark werden? Voßkuhle weiß, dass es nicht ausreicht, allein auf den rechtlichen Rahmen zu setzen: Notwendig sei auch die Bereitschaft der Gesellschaft zu Toleranz und Ausgleich. Die Gegensätze dürften nicht schlechthin unversöhnlich sein. Die Dynamik von Konflikten müsse kanalisiert und eine Eskalation verhindert werden. "Die Mitte ist politisch, nicht polemisch."

Wenig überraschend also, dass der Schlussstein des Konzepts von der Mitte ein "stabiles Institutionensystem" ist. Eine funktionierende Politik, eine leistungsfähige Bürokratie. Und ein starkes Verfassungsgericht.

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Was nun genau gemeint ist mit jenen "Vermittlungskonzepten", die das Grundgesetz anbietet, erläutert Voßkuhle am Beispiel der "streitbaren" oder auch "wehrhaften" Demokratie. Ein ziemlich aktuelles Beispiel, denn streitbare Demokratie bedeutet, dass notfalls sogar eine politische Partei verboten werden darf; gerade erst hat Voßkuhles Senat die Termine für das NPD-Verbotsverfahren anberaumt. Streitbare Demokratie heißt nach den Worten des Richters, sich über die Bedingungen des Diskurses zu verständigen, dessen Grenzen zu thematisieren und - an dieser Stelle wird es interessant - "vor allem aber seinen Fortbestand zu garantieren". Die Mitte sei der Raum, in dem Konflikte ausgetragen würden. "In politischer Hinsicht ist sie die Arena, die offen gehalten wird, damit diese Ansprüche auch tatsächlich artikuliert werden können." Oder, noch einmal anders gewendet: "Auch politisch unliebsame Meinungen sind zu ertragen. Zugleich muss der Staat entsprechende Kapazitäten vorhalten, um die Funktionsfähigkeit des politischen Diskurses zu sichern."

Zur NPD hat Voßkuhle an dieser Stelle nichts gesagt, aber nur zur Erinnerung: Seinen Verbotsantrag hat der Bundesrat unter anderem damit begründet, dass die NPD verantwortlich für die massive Einschüchterung von Lokalpolitikern in Ostdeutschland sei. Dadurch, so der Bundesrat, sei die Funktionsfähigkeit des politischen Diskurses beeinträchtigt.

Die Mitte heißt nicht: grenzenlose Duldsamkeit mit hetzerischen Extremisten

Der Staat - und damit sein oberstes Gericht - muss also den Ausgleich suchen. Aber er muss auch die Bedingungen schaffen, unter denen Kompromiss und Verständigung möglich ist. Das klingt nicht nach grenzenloser Duldsamkeit mit hetzerischen Extremisten.

Voßkuhle dekliniert die ganze Reihe der verfassungsrechtlichen Vermittlungskonzepte durch. Die Religionsfreiheit etwa, die den Glaubensrichtungen "Raum zur Entfaltung" gibt und sie nicht in die private Ecke zurückdrängt. Oder den Föderalismus, der neben dem Wettbewerb eben auch die Solidarität kennt. Auch sein Lieblingsthema Europa kommt vor - hier Integration, dort Bewahrung eigener Staatlichkeit.

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Zu den besonders brennenden Problemen rechnet er die sozialen Fliehkräfte, die durch die wachsende ökonomische Ungleichheit entstehen. Die Spreizung ökonomischer Chancen werde dort gefährlich, "wo mit ihr der Glaube an die Fähigkeit des Staates und der Demokratie zum Ausgleich erodiert". Als Verfassungsrichter - das Grundgesetz sei in sozialpolitischen Fragen grundsätzlich zurückhaltend - mag er in diesem Punkt freilich nur Fragen formulieren: "Lässt sich im demokratischen Rechtsstaat ein Weg finden, der die Mitte zwischen einer Entgrenzung des Kapitals und einer Überfrachtung der Sozialsysteme hält?"

In der Krise ist die Versuchung radikaler Entscheidungen groß

Wie das Grundgesetz als Instrument des sozialen Ausgleichs nutzbar gemacht werden könnte, das hatten vor einem Jahr drei seiner Kollegen formuliert. In einem Minderheitsvotum zum Urteil in Sachen Erbschaftsteuer forderten sie, Konsequenzen aus dem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz zu ziehen: "Die Erbschaftsteuer (. . .) ist zugleich ein Instrument des Sozialstaats, um zu verhindern, dass Reichtum in der Folge der Generationen in den Händen weniger kumuliert und allein aufgrund von Herkunft oder persönlicher Verbundenheit unverhältnismäßig anwächst."

Und die Flüchtlingskrise? Es sei offensichtlich, dass ein Verfassungverständnis der Mitte herausgefordet werde, wenn sich rechtliche Regeln politischen Realitäten beugten und Entscheidungsträger vielerorts die Grenzen der Belastungsfähigkeit überschritten sähen. "In einer solchen Krise mag die Versuchung groß sein, den gordischen Knoten durch radikale Entscheidungen zu lösen." Doch "hält das Grundgesetz dazu an", den Weg des Ausgleichs nicht zu verlassen.

Am Ende blieb es freilich bei einem Appell: "So ist es kein Weg, sich in Abkehr vom Prinzip der offenen Staatlichkeit von der Welt abzuschotten oder gar die Solidarität mit Asylsuchenden aufzukündigen." Schon gar nicht in einer Gesellschaft, "die aufgrund ihrer Geschichte wie kaum eine andere der Würde des Einzelnen verpflichtet ist".

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