Niemand verkörpert die Misere des Staates in Algerien so wie dessen höchster Repräsentant: Präsident Abdelaziz Bouteflika, der seit 20 Jahren das größte Land Afrikas regiert, ist seit einem Schlaganfall im Jahr 2013 auf einen Rollstuhl angewiesen. Der 82-Jährige tut sich schwer mit dem Sprechen, ist so gebrechlich, dass er öffentlich kaum noch auftritt. Seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit bei der Präsidentenwahl Mitte April reichte sein Wahlkampfleiter ein, Bouteflika wurde zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus in Genf behandelt.
Mehr als die Hälfte der Algerier ist heute jünger als 30 Jahre. Für sie repräsentiert Bouteflika ein verkrustetes System, das weder willens noch fähig ist, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Zwar hat Algerien ein brauchbares Bildungssystem aufgebaut, doch die Arbeitslosigkeit liegt in der jungen Generation offiziell bei fast 30 Prozent. Viele Familien leiden unter dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die Quartiere vor allem in den Vorstädten sind heruntergekommen. Willkür, Inkompetenz und Korruption der Behörden verschärfen das tief sitzende Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.
Es ist der Wunsch nach Würde, nach Gerechtigkeit, der die Menschen auf die Straße treibt. Zu groß ist die Zumutung des Weiterwurstelns, für die eine fünfte Amtszeit Bouteflikas stünde. Der Armeechef munkelt von Kräften, die Algerien in die "schmerzhaften Zeiten des Bürgerkrieges" zurückführen wollten - ein Versuch, die Demonstranten einzuschüchtern und in die islamistische Ecke zu stellen. Doch der Aufstand wird getragen von Studenten, von jungen, zumeist gut ausgebildeten, oft säkular eingestellten Algeriern, die eine Perspektive einfordern.
Im Jahr 2011 hatte der Arabische Frühling in Algerien zwar zu Protesten geführt, aber anders als in Ägypten oder Tunesien nicht zum Sturz des gerontokratischen Regimes. Zu groß war die Angst, zu präsent die blutigen Jahre des Bürgerkriegs, der erst 2002 endete und Zigtausende das Leben kostete. Jetzt aber ist die Mauer der Angst gebrochen, wie es der Schriftsteller Kamel Daoud formuliert hat. Der Tahrir-Moment von Algier ist da.
Was auch anders ist: Das System, die Bürger staatlich zu versorgen, hat sich überlebt. Infrastrukturprojekte, umfassende Subventionen und Beamtenjobs, die alten Rezepte, das Volk ruhig zu halten, funktionieren nicht mehr. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, mit den gesunkenen Öl- und Gaseinnahmen die schnell wachsende Bevölkerung adäquat zu versorgen. Zu den jetzt 42 Millionen Menschen kommt pro Jahr eine Million hinzu.
Und le pouvoir, die undurchsichtige Clique aus Apparatschiks der regierenden Nationalen Befreiungsfront, des Militärs und der Geheimdienste, die Algerien beherrscht, verweigert den politischen Dialog. Sie versucht, ihre Macht zu retten mit dem Versprechen, in einem Jahr neu wählen zu lassen. Doch die Proteste gehen weiter. Der algerische Frühling hat gerade erst begonnen, die Zivilgesellschaft ist erwacht, die großteils entpolitisierten Menschen politisieren sich wieder.
Der Ausgang der Aufwallung ist offen. Einmal mehr aber demaskieren die Proteste den alten Fehler, dem Regierungen in Europa beim Blick auf die Region gerade wieder anheimfallen: mit massiver politischer Unterdrückung erzwungene Grabesruhe mit Stabilität zu verwechseln und die Augen zu verschließen vor den tieferen Ursachen der Unzufriedenheit.