Afghanistan und die Taliban:Im Angebot: Ein normales Leben

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Hin und wieder schafft es die afghanische Regierung, Kämpfer der Taliban zum Überlaufen zu bewegen. Denn nicht alle werden von religiösen Motiven getrieben, viele kämpfen nur für die Extremisten, um zu überleben. Doch die Karsai-Regierung hat ihnen nicht viel zu bieten.

Tobias Matern

Kommandeur Habib ist mit dem Motorrad aus seinem Dorf in die Stadt gekommen, der Reifen ist ein wenig platt. Das nimmt der Mann mit der roten Gebetskappe gelassen hin. Durch seinen Bart ziehen sich graue Haare. Die 35 Jahre seines Lebens haben ihn gezeichnet.

Die Karsai-Regierung versucht, Taliban-Kämpfer zum überlaufen zu motivieren - doch hat sie ihnen nur wenig zu bieten. (Archivbild mit kapitulierenden Taliban). (Foto: DPA)

Das linke Auge verlor er vor Jahren durch eine russische Bombe, Furchen ziehen sich durch das Gesicht, am Kinn hat er eine Narbe. Die meiste Zeit hat er gekämpft, auch in den vergangenen Jahren wieder, als es gegen die Regierung ging und gegen die Truppe, die im Norden Afghanistans stationiert ist: die deutsche Bundeswehr.

Vor drei Monaten aber hat Habib, der wie viele hier nur einen Namen benutzt, gemeinsam mit 25 Gefolgsleuten die Waffen gestreckt. Er sagt, sie hätten auch neun Kalaschnikows, einen Granatwerfer und vier Funkgeräte übergeben. Es ist ein Erfolg für die Regierung, die weiß, dass sie Männer wie ihn zurück in die Gesellschaft holen muss, um Afghanistan nach zehn Jahren Krieg auf den Weg zum Frieden zu führen.

Sie weiß, dass sie vor allem jene Taliban erreichen kann, die nicht aus ideologischen Motiven kämpfen, sondern ihr Geld damit verdienen. Männer wie Habib. Er sagt: "Ich werde immer alles tun, was nötig ist, um meine Kinder zu ernähren."

Habib ist mit zwei Frauen verheiratet, das ist hier nicht ungewöhnlich. Sie haben sechs Jungen und drei Mädchen. Sein Dorf liegt im berüchtigten Distrikt Char Darah. Bis zum Herbst war die Gegend genau wie manche anderen Teile der Region in der Hand der Aufständischen.

Gezielte Jagd auf Taliban

Nun heißt es bei der Bundeswehr im Wiederaufbau-Lager (PRT) in Kundus, es gebe in der Provinz keinen Bereich mehr, in dem sich die Soldaten nicht bewegen könnten, die Lage habe sich deutlich verbessert. Und doch ist aus den Worten der Soldaten auch Skepsis herauszuhören, ob sich der für das Jahr 2014 angepeilte Abzug aller Kampftruppen einhalten lässt.

Die afghanischen Sicherheitskräfte kämen in ihrer Ausbildung voran, aber wenige glauben hier, dass sie die Lage 2014 selbst kontrollieren könnten. Wenn es gut laufe für Afghanistan, werde das Land nach dem Abzug der Isaf-Truppen eine gewisse Stabilität erleben. "Wenn es schlecht läuft, kommt es hier wieder zu einem Bürgerkrieg", sagt ein Soldat.

Ende der neunziger Jahre schloss sich Habib erstmals den Taliban an, als klar war, dass die Islamisten Kundus einnehmen würden. Nach dem 11. September 2001 und dem Einmarsch des Westens versuchte er, als Bauer zu überleben. Es kam zu einem Streit mit dem damaligen Polizeichef von Char Darah. Habib fühlte sich gegängelt und meldete sich bei den Taliban zurück, wo er 40 Männer um sich scharte. Das Gehalt habe gereicht, um für seine Männer und sich sorgen zu können, sagt er.

Doch seit die USA gezielt Jagd auf Taliban in Kundus machen, ist das Leben für die Aufständischen ungemütlich geworden. Kaum eine Nacht vergeht ohne eine dieser "Töten-oder-Verhaften"-Missionen. Die Islamisten haben erhebliche Verluste erlitten. Seine Weggefährten seien kampfesmüde, berichtet Habib. Sie verlangten, er als ihr Anführer möge zur Regierung überlaufen, sie würden ihm dann folgen. Er beugte sich ihrem Willen, überzeugt war er nicht.

So ist Habib also wieder ein Ex-Talib - einer von angeblich 400 Männern in Kundus, die ihre Waffen niedergelegt haben. Zumindest nennt Asadullah Omarkhil diese Zahl. Er leitet das Büro des "Hohen Friedensrates" in Kundus, der auf Geheiß der Regierung von Hamid Karsai die Taliban zur Eingliederung in die Gesellschaft bewegen soll. Keine Region im ganzen Land, betont der Paschtune stolz, sei bei der Reintegration so erfolgreich wie Kundus, "weil sowohl die Regierung als auch die Taliban mir vertrauen".

Belohnungen für Überläufer

Der Versuch, Kämpfer zum Überlaufen zu motivieren, laufe meist ähnlich ab: Mitglieder des Friedensrates reisen in die Dörfer, suchen den Kontakt zu den Stammesführern, die wiederum den Draht zu den Taliban herstellen. Es komme zu Treffen und langen Gesprächen, erzählt Omarkhil.

Falls die Islamisten ihren Willen zum Überlaufen bekundeten, würden sie in Fahrzeugen der Regierung zum Büro des Gouverneurs gebracht und dort von Regierungsbeamten begrüßt. "Wir machen keine falschen Versprechungen", sagt Omarkhil und meint damit die Aussicht auf einen Job.

In Kundus heißt es zwar, einige ehemalige Taliban seien nun etwa im Straßenbau tätig. Die Deutschen betreiben nicht nur diesen, sondern auch andere Entwicklungsprojekte wieder intensiver, seit sich die Sicherheitslage verbessert hat. Auch sollen Dörfer mit Strom und Infrastruktur belohnt werden, wenn die dort lebenden Taliban die Seiten wechseln.

Aber es gibt noch nicht einmal genug Arbeit für Menschen, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. Afghanistan bleibt auf die ausländischen Geber angewiesen; wirtschaftlicher Fortschritt, der auf eigenen Füßen steht, ist kaum auszumachen. Immerhin könne die Regierung den wechselwilligen Taliban nach dem Überlaufen "eine Sicherheitsgarantie und ein normales Leben bieten", sagt Omarkhil.

Männer wie Toofan lassen sich so allerdings nicht ködern. Er kämpft weiter. In einem Telefonat erzählt der Taliban-Kommandeur, allein in Char Darah seien noch immer Hunderte Aufständische aktiv. Der 28-Jährige gesteht jedoch bereitwillig ein, dass die Amerikaner mit ihren nächtlichen Kommandoaktionen seine Bewegung geschwächt hätten. "Die Taliban waren mit dieser Taktik nicht vertraut", sagt der Anführer einer Kampftruppe.

Früher hätten seine Kameraden in ein und demselben Haus übernachten können, in dem sie zuvor bewirtet worden seien, erzählt Toofan. Das sei nun vorbei. Sie wechselten stets nach wenigen Stunden ihren Aufenthaltsort, seien immer auf der Suche nach einem neuen Versteck.

Toofan sagt, er habe von bewaffneten Gruppen in Kundus gehört, die sich auf die Seite der Regierung in Kabul geschlagen hätten. Doch seiner festen Überzeugung nach ist kein "echter Talib" wirklich bereit zum Frieden mit der Regierung. Bei jenen, die nun überliefen, handele sich ausschließlich um verbrecherische Milizen.

Für den Mann, der sich vor sechs Jahren "aus religiöser Überzeugung" den Taliban anschloss, nachdem er eine Madrassa in Pakistan besucht hatte, kommt so etwas nicht in Frage. Er werde sich niemals einer Regierung beugen, die fremdbestimmt werde.

Im Gegenteil, in diesem Krieg sei er bereit, für die Ziele der Taliban zu sterben: "Wir wollen, dass die Ausländer aus Afghanistan verschwinden und ein islamisches Land etabliert wird, das der Scharia folgt", sagt Toofan, der nach eigenen Angaben 40 Männer anführt.

Sprengfallen statt Gefechten

Falls es nach Verhandlungen zu einer afghanischen Friedenslösung komme, wäre er gerne bereit, sich den einheimischen Sicherheitskräften anzuschließen. "Wenn man die Schwierigkeiten eines Lebens als Talib durchsteht, ist es nicht schwierig, Polizist oder Soldat zu werden", sagt Toofan.

Diese Sicherheitskräfte bekämpft er aber nach wie vor noch mit aller Härte. Die Taliban mögen sich nicht mehr so ungehindert in Kundus bewegen können, dafür haben sie ihre Taktik geändert. Statt sich auf Gefechte mit den technisch deutlich überlegenen Isaf-Truppen einzulassen, setzen sie auf Sprengfallen und Selbstmordanschläge.

Sie bemühen sich, bekannte Politiker und Polizeiführer auszuschalten, auch ranghohe Soldaten der Bundeswehr sind im Visier. Am Wochenende griffen die Taliban einen Konvoi an, in dem der Kommandeur des deutschen PRT, Oberst Norbert Sabrautzki, saß. Er blieb unverletzt.

Doch innerhalb von kurzer Zeit sind vier deutsche Soldaten im Norden Afghanistans bei Anschlägen gestorben, der deutsche Regionalkommandeur Markus Kneip überlebte nur knapp eine Attacke. Auch einen Gouverneur und einen Polizeichef von Kundus haben die Taliban getötet.

Samiullah Qatra gibt sich unerschrocken, wenn die Sprache auf diese lange Liste prominenter Opfer kommt. Der neue Polizeichef von Kundus sitzt in seinem Büro und lässt Limonade reichen, die nach Kaugummi schmeckt. Auch er war erst vor wenigen Tagen Ziel eines Selbstmordattentäters, der dabei vier Polizisten in den Tod riss.

"Wenn Gott es wünscht, bleibe ich am Leben, wenn er es anders wünscht, dann nicht", sagt er. An der Wand seines Büros hängt ein Porträt von Ahmad Shah Massoud, der während des Taliban-Regimes einige der wenigen Flecken im Land kontrollierte, die die Islamisten nicht beherrschten.

Dass die selbst ernannten Gotteskrieger wieder so viel Einfluss erringen werden wie vor dem 11. September 2001, glaubt in Afghanistan zwar kaum jemand. Aber selbst kleine Erfolge auf dem Weg zu mehr Stabilität können schnell zunichte gemacht sein. Der Ex-Taliban-Kommandeur Habib etwa ist drei Monate nach seinem Seitenwechsel verärgert.

Seine Männer müsse er nun selbst bezahlen, die Regierung helfe nicht so, wie er sich das vorgestellt habe. Auch für seine Sicherheit müsse er selbst sorgen, die Taliban brandmarkten ihn als Verräter und drohten, ihn zu töten. Eigentlich wolle er nicht mehr kämpfen, sagt Habib. Aber wenn er nur so den Lebensunterhalt für sich und seine Familie bestreiten könne, bliebe ihm keine andere Wahl.

Mitarbeit: Habib Zohori

© SZ vom 22.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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