Afghanistan: Staatschef Hamid Karsai:"Wir sind keine Kolonie"

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Präsident Hamid Karsai über das oft verletzende Verhalten der Soldaten aus dem Westen und das Gefühl der Angst, das sich unter den Afghanen ausbreitet.

Tobias Matern und Peter Münch

Süddeutsche Zeitung: Herr Präsident, Europa und die USA beschweren sich zunehmend über die Lage in Ihrem Land und über Ihre Regierung. Wo sehen Sie Afghanistan mehr als sieben Jahre nach Kriegsbeginn?

"Wir sind ein unabhängiges Land": Präsident Ha (Foto: Foto: Reuters)

Hamid Karsai: Wir kämpfen nun seit sieben Jahren gemeinsam gegen den Terrorismus, und in dieser Zeit haben die Afghanen viel geleistet. Sie haben eine Verfassung aufgebaut, einen Präsidenten und ein Parlament gewählt. Auch die internationale Gemeinschaft hat ihren Teil getan, sie hat uns Geld gegeben, Steuergeld, das schätzen wir sehr. Aber dass der Krieg nicht zu Ende geht und die vertriebenen Taliban zurückkehren, das ist gewiss nicht allein unser Unvermögen.

SZ: Wer ist dafür verantwortlich?

Karsai: 2001 haben wir den Terrorismus in weniger als eineinhalb Monaten besiegt. Damals waren nicht einmal 500 US-Soldaten im ganzen Land unterwegs. Die Einheimischen haben die Taliban vertrieben. Aber dann haben sich unsere Verbündeten nicht rechtzeitig um die Rückzugsgebiete jenseits der Grenze gekümmert. Das haben wir ihnen jahrelang gesagt, bei jedem Treffen. Die heutige Situation ist aus einer Kombination von Tatenlosigkeit und Unachtsamkeit entstanden.

SZ: Die neue US-Regierung bittet alle Verbündeten um Ratschläge. Was ist Ihr Rat an Präsident Obama?

Karsai: Wir brauchen eine andere Strategie, die sich mehr darauf konzentriert, Frieden herbeizuführen. Wir fordern das schon lange.

SZ: Sie fordern auch mehr Respekt für die Afghanen von Seiten des Westens. Werden Sie arrogant behandelt?

Karsai: Ich würde es nicht westliche Arroganz nennen. Aber es gibt ein Verhalten, das die Afghanen verletzt. Wenn ein Afghane verhaftet und zu einem Luftstützpunkt gebracht wird und die Regierung ihn nicht freibekommt - hilft das dem afghanischen Rechtsstaat oder unterwandert es ihn? Wenn ein afghanisches Haus nachts gestürmt wird, die Frauen und Kinder herausgeholt werden und die Männer drinnen erschossen werden - trägt das zu einem Gefühl der Sicherheit bei oder führt das dazu, dass sie sich ängstlich fühlen und Sorgen machen? Wir bitten da um einen Wandel, weil die Afghanen das Gefühl brauchen, dass ihre Regierung sie schützen kann.

SZ: Sie wollen mit den Taliban verhandeln, um Frieden zu erreichen. Würden Sie dafür auch die Demokratisierung Afghanistans opfern?

Karsai: Es muss im demokratischen Prozess geschehen, im Rahmen der afghanischen Verfassung. Aber die Taliban, die nicht zu al-Qaida zählen, müssen eine Erlaubnis bekommen, am politischen Prozess teilzunehmen.

SZ: Die Taliban haben sicher eigene Vorstellungen von Teilhabe. Sie könnten Scharia-Gesetze verlangen.

Karsai: Afghanistan ist eine islamische Republik, und die Verfassung hat den Islam als Grundlage des Rechtssystems. Deshalb gibt es keinerlei Probleme damit.

SZ: Das hört sich aber nicht nach dem an, wofür der Westen einst nach Afghanistan gekommen ist.

Karsai: Das Kämpfen und das Töten kann nicht ewig dauern. Das ist nicht gut für den Westen, das ist nicht gut für Afghanistan. Ihre Soldaten sterben dort, und das ist doch sinnlos. Wir sollten einen Weg finden, das zu reduzieren oder zu beenden. Ich hoffe, unsere Freunde im Westen verstehen das.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Hamid Karsai zur Drogenflut in seinem Land sagt und wie er die Bevölkerung bei den Parlamentswahlen für sich gewinnen will.

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Karsai: Ich hoffe, dass der Aufbau der afghanischen Truppen und der Institutionen 2015 abgeschlossen sein wird. Aber was den Krieg gegen den Terrorismus betrifft, hoffe ich, dass es schneller geht.

SZ: Sind dafür mehr Soldaten nötig?

Karsai: Mehr Truppen wären anfangs besser gewesen, unsere Verbündeten aber haben das erst spät eingesehen. Jetzt kommen mehr Soldaten, aber sie müssen auch in den Süden gehen, wo der Einfluss der afghanischen Regierung geschwunden ist. Und sie müssen die Grenze zu Pakistan besser schützen, damit die Terroristen sie nicht so leicht überschreiten können.

SZ: Könnten da auch die Deutschen mehr leisten?

Karsai: Die Deutschen haben viel geleistet. Historisch betrachtet sind sie die größten Freunde Afghanistans. Sie haben uns nie im Stich gelassen. Ich werde die Deutschen nicht um mehr bitten, wir sind schon dankbar. Aber wenn Deutschland von sich aus entscheidet, mehr zu tun, sind wir sogar noch dankbarer.

SZ: Die Amerikaner hingegen beginnen, sie im Stich zu lassen. Vizepräsident Joe Biden hat kurz vor Amtsantritt gesagt, Afghanistan sei ein einziges Durcheinander, und Außenministerin Hillary Clinton sprach von einem "Drogen-Staat".

Karsai: Hillary Clinton hat das nicht gesagt, sie ist eine sehr respektvolle Person. Und Biden - ja, er hat recht, es ist ein Durcheinander. Deshalb müssen wir ja gerade miteinander reden. Ich sage: Hört auf mit den zivilen Opfern, hört auf mit den Festnahmen, den Hausdurchsuchungen, sorgt für eine bessere Verteilung der Hilfsgüter. Und wenn Biden sagt: Es gibt Opium und Korruption, dann antworte ich: Gut, dann lasst uns auch da einen Ausweg finden.

SZ: Ihre Verbündeten werfen Ihnen vor, nicht genug gegen die Drogenflut aus Ihrem Land zu unternehmen. Sogar Regierungsmitglieder sollen daran mitverdienen.

Karsai: Das höre ich immer wieder, da ist nichts dran. Ich habe die Amerikaner gebeten, Beweise vorzulegen. Sie haben uns dann eine Liste mit elf Namen geschickt, darauf war kein Mitglied der afghanischen Regierung.

SZ: Im Westen heißt es, selbst Ihr eigener Bruder sei am Opiumhandel beteiligt.

Karsai: Ich werde jetzt nichts dazu sagen, wer ein Interesse daran hat, so ein Spiel der Schuldzuweisung zu spielen. Aber die Vorwürfe gegen meinen Bruder tauchen immer dann in amerikanischen oder britischen Zeitungen auf, wenn ich mich kurz zuvor kritisch über die Verbündeten geäußert habe, etwa nach einem Angriff mit vielen zivilen Opfern. Wir verstehen das als eine Taktik, uns unter Druck zu setzen.

SZ: Wer sollte ein Interesse daran haben?

Karsai: Ein Eindruck in Afghanistan ist, dass unsere Verbündeten unsere Regierung schwach halten wollen. Wenn die Verbündeten unsere Regierung stärken wollen, sollten sie uns mehr Mittel geben, über die wir selbst verfügen. Aber wir sind der internationalen Gemeinschaft dankbar, es könnte nur besser laufen.

SZ: Glauben Sie, die anfängliche Liebesaffäre mit dem Westen ist vorbei?

Karsai: Wir haben sieben Jahre in einer Ehe verbracht und reden immer noch miteinander. Das ist großartig, aber es gibt Tage, an denen man sauer aufeinander ist.

SZ: Haben Sie Angst, dass sich die Amerikaner von Ihnen trennen wollen?

Karsai: Die Führung Afghanistans bestimmen die Afghanen. Das hat der Westen nicht zu entscheiden. Wir sind keine Kolonie, wir sind ein unabhängiges Land. Das ist unser Stolz.

SZ: Auch in der afghanischen Bevölkerung ist die Enttäuschung riesengroß. Wie wollen Sie denn die Menschen davon überzeugen, wieder für Sie zu stimmen bei der Präsidentenwahl im August?

Karsai: Die Afghanen glaubten anfangs, sie würden schon am nächsten Tag einen Rosengarten bekommen. Ich habe das auch geglaubt. Dabei hätte ich damals sagen sollen: Wartet, es wird nicht so schnell gehen. Jetzt bin ich erfahrener und kann den Leuten sagen: Es wird noch dauern, es wird schwierig.

SZ: Sie glauben, das wird reichen?

Karsai: Soll ich den Menschen versprechen, dass wir morgen BMWs herstellen oder dass Afghanistan das wohlhabendste Land der Welt wird? Das geht natürlich nicht. Wir müssen darauf aufbauen, wo wir stehen. Wir sind ein extrem armes, gequältes Land. Ich glaube, die Afghanen sind immer noch auf meiner Seite. Aber wenn es eine Alternative gibt, sollten die Afghanen die Freiheit haben, sie zu wählen.

© SZ vom 10.02.2009/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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