Dieser Text ist ein typischer Thilo Sarrazin: Er ist lang, gespickt mit bildungsbürgerlichen Zitaten von Johann Wolfgang von Goethe und Anspielungen auf Heinrich von Kleist und zeugt von einem mitunter schwer erträglichen Selbstvertrauen. Auf einer ganzen Seite bilanziert der frühere Berliner Finanzsenator, Ex-Bundesbankvorstand und Auflagenmillionär in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Jahr 2010.
Es ist ein Jahr, dessen öffentliche Debatte er mit seinem Sachbuch "Deutschland schafft sich ab" geprägt hat. Die Überschrift des Textes lautet: "Ich hätte eine Staatskrise auslösen können." Drunter macht es ein Sarrazin nicht. In dem Beitrag klagt der 65-Jährige über eine "beispiellose Medienkampagne" mit "verleumderischen Zügen", der er ausgesetzt gewesen sei. Ihm sei "Hass aus der politischen Klasse und einem Teil der Medien" entgegengeschlagen.
Dabei sei ihm unverständlich, worin der Tabubruch seines Buches eigentlich liege, schreibt Sarrazin treuherzig: "Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten, mit der von mir zitierten Literatur hat sich, von wenigen Ausnahmen wie etwa dieser Zeitung (FAZ) abgesehen, kaum einer auseinandergesetzt, meine Sprache ist gemäßigt, beleidigt habe ich niemanden."
Sarrazin schreibt in der FAZ, dass ihn "die feindliche Aufnahme" des Buches in Politik und vielen Medien beschäftigt habe: " Immer wieder ging ich Passagen im Buch daraufhin durch, ob Fakten tendenziös dargestellt waren oder die Sprache kränkend war. Ich fand aber nichts."
Dass etwa die Zürcher Psychologin Elsbeth Stern die Vereinnahmung durch den früheren Berliner Senator ablehnt und ihm vorwirft, ihre Aussagen "aus dem Kontext gerissen und nicht korrekt wiedergegeben" zu haben, schreibt Sarrazin nicht.
Merkel und die Heilige Inquisition
Hingegen klagt er, dass ihn gerade jene am stärksten angegangen wären, die sein Werk nicht gelesen hätten. Deutlich attackiert er Angela Merkel (CDU): "Die Bundeskanzlerin eröffnete den Reigen und setzte mein Buch auf den Index, so wie es früher die Heilige Inquisition tat, indem sie erklärte, das Buch sei 'nicht hilfreich' und sie werde es auch nicht lesen."
Mit gewohnt drastischen Worten fährt der von allen Seiten verfolgte Sarrazin fort: "An die Stelle des Scheiterhaufens trat nach ihrer Planung die Verbannung aus der Bundesbank, dazu forderte sie Präsident (Axel) Weber öffentlich auf. Der frisch gewählte Bundespräsident (Christian Wulff) stolperte eilfertig hinterher und bot seine Hilfe bei meiner Entlassung an, ohne vorher den Rechtsratseiner Beamten einzuholen." Mit der ihm typischen Eitelkeit kokettiert Sarrazin, er hätte wie einst Michael Kohlhaas in der Kleist-Novelle "eine "Staatskrise auslösen" können.
Bundespräsident Wulff wirft Sarrazin in der FAZ vor, von der Halbbildung seiner Redenschreiber abhängig zu sein und den "West-östlichen Divan" von Goethe nicht zu kennen. Den Nationaldichter nimmt Sarrazin gleich in Geiselhaft: Dieser habe vor 200 Jahren schon auf "die totalitäre Gefahr" des Islams hingewiesen und kenne diese Religion viel besser als der frühere niedersächsische Ministerpräsident. Wie sich Goethes Kommentare für die Integrationsdebatte im Jahr 2011 nutzbar machen ließen, verrät der frühere Bundesbanker jedoch nicht.
Weiter mit Thilos Welt: Er sei nur kurz zornig wütend auf die Kritiker in Politik und Medien gewesen. "Stattdessen machte sich Verachtung in mir breit. Diese Verachtung sitzt mittlerweile tief", sagte der frühere SPD- Politiker, gegen den mittlerweile ein Parteiausschluss-Verfahren läuft.
Klagen über die "kriecherische Feigheit"
So steigert sich Sarrazin zu einem harschen Urteil über die Elite Deutschlands, der er bis vor kurzem selbst angehörte: "In Politik und Medien gibt es nach meiner Überzeugung heute keineswegs mehr, sondern eher weniger Zivilcourage und wirklich unabhängiges Denken als in der Weimarer Republik oder in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik."
Der selbst ernannte Mahner orakelt in drastischen Worten in der FAZ weiter: "Weh uns, wenn sich die Verhältnisse, in denen wir uns so behaglich und selbstgerecht aufgehoben fühlen, einmal zu unseren Ungunsten ändern sollten. Wir werden uns dann wundern über den überbordenden Opportunismus und die kriecherische Feigheit rings um uns."
Diese Überzeugung speist sich offenbar aus den Reaktionen der Leser, die ihn mit Lob auf Bahnsteigen, in Zügen oder Buchhandlungen überhäufen und um Autogramme bitten: "99 Prozent aller für mich wahrnehmbaren Reaktionen sind positiv."
Zum Ende des langen Texts denkt Sarrazin darüber nach, inwieweit sein Sachbuch, das bisher 1,2 Millionen Mal verkauft wurde, das Land verändert habe. Sein Fazit lässt den Schluss zu, dass er dessen Wirkung mehr als zufrieden ist: "Aber über Worte ging es bislang eben nicht hinaus, in der Sache hat sich noch gar nichts geändert. Viele Politiker warten offenbar darauf, dass die durch das Buch ausgelöste Resonanz im Windschatten der nächsten Aufregung verschwindet. Mag sein, dass sie sich täuschen, für ein Resümee ist es noch zu früh."