SPD:Wagnis und Wirkung

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Axel Schildt und Wolfgang Schmidt (Hg.): "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019. 296 Seiten, 32 Euro. (Foto: Verlag J.H.W. Dietz)

Ein Sammelband erkundet Willy Brandts Demokratie-Slogan von 1969. Doch der Kanzler meinte eine andere Demokratie als die Studenten-Proteste­bewegung.

Von Isabell Trommer

Der Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" kam in Willy Brandts erster Regierungserklärung im Oktober 1969 recht unaufgeregt daher. Erst später nahm die Rede an Fahrt auf. Die Aufbruchsstimmung im Zuge des Regierungswechsels (und bald dann die Wehmut nach Brandts Rücktritt) ließ in den Hintergrund treten, dass die Veränderungen, die mit der sozialliberalen Koalition zwischen 1969 und 1974 verbunden werden, Ausdruck bereits früher einsetzender Entwicklungen und Debatten waren. Schon seit den späten Fünfzigerjahren habe sich ein Wandel der politischen Kultur abgezeichnet; gerade Mitte der Sechziger sei die gesellschaftliche Demokratisierung vorangeschritten, gibt Detlef Siegfried in einem von Wolfgang Schmidt und dem im April verstorbenen Historiker Axel Schildt herausgegebenen Sammelband zu bedenken. Darin bildet Brandts Versprechen den Ausgangspunkt für Überlegungen zur Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik. Die Autorinnen und Autoren blicken aus verschiedenen, immer interessanten Perspektiven auf dieses inzwischen "recht hohl" (Dietmar Süß) klingende "Zeitwort" (Martin Sabrow) und seinen Kontext. Sie überprüfen Antriebskräfte, Umsetzung und Wirkung und suchen auch den internationalen Vergleich.

Während Brandt einerseits auf staatliche Planung setzte, waren andererseits Mitverantwortung und Mitbestimmung die für ihn zentralen Begriffe. Die Regierung senkte das Wahlalter, erhöhte die Bildungschancen und dehnte die betriebliche Mitbestimmung aus. Dabei mag Brandt auch auf die Studentenbewegung reagiert haben, doch meinte er mit Demokratisierung etwas anderes als die Protestler. Der Kanzler habe, wie Jens Hacke schreibt, "an die Ausschöpfung der klassischen Beteiligungsformen im Rahmen der bestehenden Parteiendemokratie" gedacht. Und nicht, so Philipp Gassert, an die "für die Neue Linke zentrale Idee einer 'partizipatorischen Demokratie'". Die Gesellschaft lernte, "Politik als Aushandlungsprozess zu verstehen", resümiert Knud Andresen. Von konservativer Seite wurde Brandts Vorstellung einer gesellschaftlichen Demokratisierung, wie Martina Steber ausführt, allerhand entgegengehalten; die Demokratie solle doch schlicht eine Organisationsform des Staates sein. So wurde hier wie dort um die Frage gerungen, wie weit die Demokratisierung reichen solle.

Als "Gegenstück" zur angekündigten Politik der Beteiligung versteht Alexandra Jäger den Radikalenerlass von 1972, der Mitglieder "verfassungsfeindlicher" Organisationen aus dem öffentlichen Dienst fernhalten sollte. Mindestens ambivalent fällt die Bilanz auch in anderen Bereichen aus: Im Umgang mit der NS-Vergangenheit habe Brandt, so Kristina Meyer in ihrem abwägenden Text, nicht nur eine gesellschaftliche Selbstbefragung befördert, sondern auch eine "zukunftsorientierte Distanz" zur Vergangenheit. Die Wandlungsprozesse dieser Jahrzehnte waren eben, das zeigt dieser lesenswerte Band, nach innen wie nach außen widersprüchlich und konflikthaft.

Axel Schildt und Wolfgang Schmidt (Hg.) : "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019. 296 Seiten, 32 Euro.

© SZ vom 22.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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