Grenzschutz:"Organisierte Verantwortungslosigkeit"

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Ausschau halten nach Flüchtlingen: Ein Boot der Frontex patrouilliert vor der griechischen Küste. (Foto: Dan Kitwood/Getty Images)
  • Die EU-Grenzschutzagentur hat seit 2016 immer mehr Personal und Aufgaben erhalten.
  • Oft sind die Mitarbeiter in "hybriden" Einsätzen involviert, bei denen Frontext mit den Mitgliedsstaaten kooperiert.
  • Die Zuständigkeiten sind oft nicht klar zugeordnet, die Einreichung einer Beschwerde ist kompliziert und bleibt meist ohne Konsequenzen.

Von Thomas Kirchner, München

Die in dieser Woche erschienenen Berichte über Menschenrechtsverstöße an den Außengrenzen der EU und mangelnde Transparenz bei der EU-Grenzschutzagentur Frontex kamen für Migrationsexperten nicht überraschend. Organisationen wie Pro Asyl weisen seit Jahren auf illegale "push backs" (Zurückweisungen ohne Klärung der Schutzbedürftigkeit) hin, an denen Frontex-Mitarbeiter beteiligt sind, etwa an der türkisch-griechischen Grenze. Zur Rechenschaft wurde niemand gezogen.

Weil die EU-Agentur seit 2016 viel mehr Personal und Aufgaben erhalten hat und noch erhalten wird, hat sich das Problem verschärft: Die Kompetenzen für Frontex werden weit schneller ausgebaut als der Grundrechtsschutz. Da Frontex meist in "hybriden" Einsätzen handelt, bei denen die EU mit Mitgliedstaaten kooperiert, sind die Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet. Man spielt oft Schwarzer Peter: "Wir haben immer wieder festgestellt, dass die Mitgliedstaaten gerne die Verantwortung auf Frontex schieben, und umgekehrt Frontex gerne die Verantwortung auf einen Mitgliedstaat schiebt", sagt Stefan Kessler, Vize-Vorsitzender des Frontex-Beratungsforums. Von "organisierter Verantwortungslosigkeit" spricht der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt.

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Frontex hat steil Karriere gemacht. Bei der Gründung 2004 ging es zunächst nur darum, das Handeln der EU-Staaten an den Grenzen zu koordinieren. Erst als 2014/2015 die Schwächen des Grenzschutzes in Griechenland und Italien zutage traten, kam der Wunsch auf, der EU eine größere Rolle zu geben. Inzwischen darf die Agentur Abschiebungen in eigener Regie durchführen, mit eigenen Flugzeugen. Einen noch größeren Sprung bedeutet das neue Mandat, auf das sich die EU-Institutionen im Frühjahr 2019 verständigten. Für Grenzschutz, Rückführungen und den Kampf gegen Menschenhandel sollen bis spätestens 2027 10 000 Einsatzkräfte ständig bereitstehen. Sie dürfen manches tun - etwa Einreisen verbieten -, was bisher nationalen Beamten vorbehalten war.

Fast immer sind Grundrechte betroffen. Das Mandat werfe diesbezüglich "fundamentale Fragen" auf, erklärte der europäische Flüchtlingsrat (ECRE) im November 2018. Einige seiner Vorschläge wurden in der Verordnung berücksichtigt. So wurde der 2016 eingeführte individuelle Beschwerdemechanismus ausgeweitet und die Rolle des Menschenrechtsbeauftragten bei Frontex gestärkt. Zudem gibt es ein internes Berichtssystem. Die Mitarbeiter der Agentur sind speziell geschult und müssen sich an einen Verhaltenskodex halten. Und wenn Frontex bei einer gemeinsamen Operation mit einem Mitgliedstaat systematische Menschenrechtsverletzungen auffallen, muss die Operation beendet werden. So weit die Theorie.

Klagen gegen Frontex sind schwierig, weil die Agentur keine Rechtsperson ist

"In der Praxis ist die Wirksamkeit dieser Instrumente jedoch fraglich", erklärte der ECRE der SZ. Trotz wiederholter Hinweise auf Verstöße ungarischer Grenzschützer an der Grenze zu Serbien sei die Mission nicht suspendiert worden. Und der Beschwerdemechanismus werde kaum genutzt. Er sei sehr kompliziert und in der Reichweite beschränkt, da er nur Frontex-Leute umfasse, während Handlungen nationaler Grenzschützer lediglich an die nationalen Behörden gemeldet werden könnten. Der Mechanismus könne insofern "nicht als effektiver Rechtsschutz verstanden werden".

Gegen die Mitgliedstaaten können Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor nationalen Gerichten Klage erheben und bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen. Bei Frontex selbst oder dessen Mitarbeitern wird es schwieriger. Oft ist unklar, ob Frontex die betreffende Aktion tatsächlich verantwortet. Weil die Agentur keine Rechtsperson ist, könnte nur die EU belangt werden. Eine Schadensersatzklage vor dem Europäischen Gerichtshof ist unter sehr engen Voraussetzungen möglich, aber so gut wie aussichtslos. Und weil die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention noch nicht beigetreten ist, bleibt vorerst auch der Gang nach Straßburg versperrt.

Ohnehin haben Betroffene wenig Interesse daran, sich gegen ihre Behandlung rechtlich zu wehren. Wenn sie an einer Grenze illegal abgewiesen würden, "versuchen sie es eben am nächsten Tag wieder", sagt Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. "Warum sollten sie sich auf ein solches Verfahren einlassen?"

Pro Asyl fordert daher "einen institutionell unabhängigen Beschwerdemechanismus, der für Opfer leicht zugänglich ist und der rechtlich bindende Entscheidungen treffen kann". Die Grünen im Europaparlament haben die designierte Kommissionschefin Ursula von der Leyen zu einem Vorschlag aufgefordert, wie sich der Menschenrechtsschutz bei Frontex-Einsätzen stärken ließe.

© SZ vom 09.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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