Entscheidung in Straßburg:Hoch gestimmt

Lesezeit: 5 min

Das Ergebnis ist knapper als von vielen erwartet. Ursula von der Leyen hat Mühe, eine Mehrheit zu bekommen. Dabei hatte sie fast jeder Fraktion etwas versprochen.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb

„Wer dieses Europa schwächen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin“: Ursula von der Leyen am Dienstag im Europaparlament, links der AfD-Abgeordnete Jörg Meuthen. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Als es vollbracht ist, atmet Ursula von der Leyen tief aus und legt die Hand aufs Herz: "Es ist eine große Verantwortung, und meine Arbeit beginnt jetzt." Mit 383 Stimmen wurde sie am Dienstagabend in Straßburg in geheimer Wahl zur neuen Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt. Das Ergebnis ist denkbar knapp, viel knapper als zuletzt erwartet. Nötig waren 374 Stimmen gewesen. Zum Vergleich: 2014 hatte ihr Vorgänger, Jean-Claude Juncker, 422 Stimmen erhalten.

Mit ihrer Wahl ging für von der Leyen ein Tag zu Ende, der für sie mit der wohl wichtigsten Rede ihrer Karriere begonnen hatte. Am Morgen hatte sie vor dem EU-Parlament ihre "Leitlinien" für die Zukunft Europas vorgestellt. Das Programm, mit dem sie um die Abgeordneten werben wollte, um Junckers Nachfolgerin zu werden, dessen Amtszeit am 31. Oktober endet.

Zu Beginn dieser Rede erinnert die CDU-Politikerin - auf Französisch - an die Französin Simone Veil, die vor knapp 40 Jahren als erste Frau zur Präsidentin des Europäischen Parlaments gewählt wurde. Sie freue sich, dass nun endlich auch eine Frau Kandidatin für den Job der EU-Kommissionspräsidentin sei. Dann schwärmt sie auf Deutsch davon, dass heute 500 Millionen Europäer in Wohlstand und Freiheit leben würden. Aber Digitalisierung, Überalterung und vor allem der Klimawandel bereiteten vielen Bürgern Sorgen. Europa dürfe auf diese Sorgen nicht mit Protektionismus oder autokratischen Tendenzen antworten, sondern mit Geschlossenheit. "Wenn wir im Inneren einig sind, kann uns niemand von außen spalten", sagt sie.

Dann widmet sie sich dem Thema, das ihre Politik in den kommenden fünf Jahren bestimmen dürfte: der Klimakrise. Sie sagt, sie wolle Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Dies solle in einem "Klimagesetz" festgeschrieben werden, verspricht sie. "Was gut für den Planeten ist, muss gut für die Menschen sein", sagt von der Leyen. Ein Fonds soll den Bürgern helfen.

Ihre Rede trägt sie stehend hinter einem durchsichtigen Pult vor, das ein Saaldiener nach Ende des Vortrags gleich wieder verschwinden lässt. Immer wieder streut von der Leyen Hinweise auf ihre Biografie ein. Als siebenfache Mutter sei es ihr besonders wichtig, Armut zu bekämpfen und Kindern Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu verschaffen. Außerdem plädiert die Kandidatin für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung. Sie soll EU-Staaten helfen, wenn sie von einem wirtschaftlichen Schock getroffen werden. Als sie über den geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU spricht, den sie "bedauert, aber respektiert", wird es richtig laut - gerade in den Reihen der Brexit-Party rund um Nigel Farage. Von der Leyen bleibt ruhig und betont, dass das Vereinigte Königreich "unser Verbündeter, unser Partner und unser Freund" bleiben werde. Auf ihre Forderung, dass die EU in der Außenpolitik vom Prinzip der Einstimmigkeit abgehen sollte, folgt lautes Klatschen, aber es gibt auch Buh-Rufe.

Den Großteil ihrer Rede hält von der Leyen auf Englisch, doch am Ende wechselt sie noch einmal ins Deutsche. Sie berichtet von ihrem Vater, der am Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den Deutschland "Tod, Verwüstung, Vertreibung und Zerstörung" über Europa gebracht hat, 15 Jahre alt gewesen war. Später arbeitete er für die Montanunion, weshalb sie in Brüssel zur Welt kam. Sie bezeichnet sich als "leidenschaftliche Kämpferin" und macht klar: "Wer aber dieses Europa schwächen, spalten oder seine Werte nehmen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin."

Die EU müsse ihren Einfluss nutzen und Verantwortung übernehmen für sich und andere, fordert sie. "Die Welt braucht mehr Europa." Ihre Bewerbungsrede beendet sie mit Pathos in drei Sprachen: "Es lebe Europa, vive l'Europe, long live Europe."

In der anschließenden Debatte ergreift Manfred Weber von der EVP als Chef der größten Fraktion zuerst das Wort. Er bekräftigt, dass die Kandidatin am Abend auf die Stimmen der Christdemokraten zählen kann. "Die Europäische Volkspartei wird Ursula von der Leyen heute geschlossen unterstützen." Er bedanke sich für ihre Zusage, dem Parlament ein Initiativrecht einzuräumen, spricht sich aber auch dafür aus, den Nominierungsprozess für den Kommissionspräsidenten in der Zukunft zu verbessern, "damit die Hinterzimmer endlich der Vergangenheit angehören" - was im Saal mit Gelächter kommentiert wird.

Die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, die Spanierin Iratxe García Peréz, beteuert, dass die Abgeordneten "keine institutionelle Krise" wollten, "die den Wandel noch aufschiebt". Kurz vor dem Urnengang empfiehlt sie den gut 150 Mitgliedern ihrer Gruppe, mit "Ja" zu stimmen. Die 16 SPD-Europaabgeordneten beeindruckt das nicht. Sie verweigern von der Leyen die Unterstützung.

Ihnen geht es ums Prinzip, genauer: das Spitzenkandidatenprinzip. Ohne einen Deal zwischen Rat und Parlament seien die Versprechungen von der Leyens an das Parlament nichts als "ungedeckte Schecks", erklärt die neugewählte Abgeordnete Gaby Bischoff vor der Abstimmung. Darum habe sie auch vor der Europawahl darauf bestanden, dass nur ein Spitzenkandidat Präsident der Kommission werden dürfe. "Ich will nach der Abstimmung noch in den Spiegel schauen können, und nicht aus Opportunismus für von der Leyen stimmen, oder weil das jetzt Mainstream ist." Auch die Grünen blieben bei ihrem Nein zu Ursula von der Leyen, weil ihnen die Klimaschutz-Zusagen nicht weit genug gingen.

Von der Leyens Probleme in Berlin spielen in Straßburg kaum eine Rolle - bis sich der Satiriker Nico Semsrott erhebt, Abgeordneter von "Die Partei". Er fordert die Kandidatin auf, ihre finanziellen Interessen offenzulegen - und trägt dabei einen schwarzen Kapuzenpulli, der von oben bis unten mit den Logos jener Unternehmensberater beklebt ist, denen das Verteidigungsministerium jene Aufträge erteilt hat, mit denen sich nun im Bundestag ein Untersuchungsausschuss beschäftigt.

Außer Semsrott melden sich noch 80 andere Abgeordnete zu Wort. Die Kandidatin selbst, Ursula von der Leyen, ist in dieser Diskussion kaum mehr zu hören. Schweigend sitzt sie erst sehr aufrecht, im Verlauf der Debatte aber sogar beinahe entspannt in ihrem Sessel in der ersten Reihe. Immerhin, ein Glas Wasser wird ihr irgendwann gereicht. "Die Debatte ist jetzt an einem Punkt angekommen, wo alles schon gesagt wurde. Nur noch nicht von jedem", zieht der schottische Abgeordnete Alyn Smith zwischendurch leicht frustriert Bilanz.

Je länger das Reden-Stakkato dauert, desto leeren werden die Reihen. Offenbar teilen einige Smiths Frust. Von der Leyen aber wendet das ganze sogar in ein Lob: Um 12.57 Uhr, fast vier Stunden nachdem ein Saaldiener sie hinein geführt hatte, bedankt sie sich für die Debatte. Sie habe gezeigt, wie lebendig Europas Demokratie sei. Auf die vielen Wortbeiträge zuvor geht sie kaum noch ein. Dann Händeschütteln mit dem Parlamentspräsidenten und ein paar Selfies mit Abgeordneten, bevor sie den Plenarsaal als eine der letzten verlässt.

Eine wichtige Personalie hatte sie schon am Vorabend geklärt: Bei ihrem Besuch in der EVP-Fraktion teilte sie mit, den deutschen EU-Beamten Martin Selmayr weder als Generalsekretär der EU-Kommission noch als Kabinettschef behalten zu wollen. Selmayr gilt als rechte Hand von Jean-Claude Juncker und Spiritus Rector von dessen selbsternannter "politischer Kommission". In der Brüsseler Polit-Blase ist Selmayr als "Fürst der Finsternis" und "Berlaymonster" bekannt und gefürchtet - in den Wochen nach der Europawahl gab es permanent Gerüchte, dass der 48-Jährige nach einem Kandidaten für die Juncker-Nachfolge suche, der es ihm erlaube, weiter im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes zu bleiben, wo alle wichtigen Dossiers über seinen Schreibtisch gehen.

Die Ankündigung, nicht auf Selmayr zu setzen, dürfte von der Leyen im EU-Parlament geholfen haben. Erst im Dezember hatte eine Mehrheit der Abgeordneten dessen Rücktritt gefordert, weil sie seine Beförderung, die binnen Minuten erfolgte, als rechtswidrig ansehen. Dem Insider-Portal Politico verriet Selmayr nun, dass er Brüssel verlassen wolle. Er rechne damit, dass von der Leyen einen Franzosen zum Generalsekretär machen werde, etwa den Finanzfachmann Olivier Guersent.

Zu all diesen Fragen äußert sich die Kandidatin am Dienstag nicht. Die fünf Stunden zwischen Ende der Debatte und Beginn der Abstimmung hatte von der Leyen übrigens im Büro ihres Übergangsteams verbracht. Telefoniert wurde kaum noch, hieß es aus ihrem Umfeld, sie habe "Orga-Sachen" abgearbeitet. Diese Disziplin wird sie brauchen in den nächsten fünf Jahren.

© SZ vom 17.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: