Angebliche Vergewaltigung:Warum Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge demonstrieren

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Demo von Russlanddeutschen in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg). (Foto: Lucy Nicholson/dpa)
  • Nach russischen Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen in Berlin protestieren Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge.
  • Beobachter befürchten, dass sie von rechten Gruppen und von Moskau instrumentalisiert werden.
  • Die Selbstwahrnehmung der Russlanddeutschen spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Vorfälle von Köln.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Ein Mädchen verschwindet, ein Mädchen taucht wieder auf. Etwas ist passiert. In sozialen Netzwerken verbreitet sich schnell ein Gerücht: Die 13-Jährige aus dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Befeuert wird das Gerücht von russischen Medien. Das Mädchen, Lisa, kommt aus einer russlanddeutschen Familie. Bald gehen in mehreren deutschen Städten Russlanddeutsche auf die Straße, teilweise gemeinsam mit der NPD und Pegida-Ablegern. Sie protestieren gegen den deutschen Staat, dem sie Vertuschung vorwerfen - und gegen Flüchtlinge, die sie als Gefahr sehen. Schließlich mischt sich sogar der russische Außenminister Sergej Lawrow ein, kritisiert die Ermittlungsarbeit der deutschen Behörden.

Aber auch von ganz anderer Seite wird Kritik laut. Lässt sich die russlanddeutsche Community instrumentalisieren für einen Feldzug gegen die deutsche Flüchtlingspolitik? "Rechte, Russlanddeutsche und von einem Schweigekartell Überzeugte haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen, die keine Skrupel kennt", schreibt zum Beispiel Zeit Online. Und: "Das antieuropäische Ressentiment wird von den russischen Staatsmedien schon lange bedient. Doch jetzt fällt es auch bei uns auf fruchtbaren Boden."

Der rbb schreibt, der Fall nutze vor allem der AfD und der NPD - diese suchten schon länger Anschluss zur russlanddeutschen Community. Einige Kommentatoren vermuten gar eine vom Kreml gesteuerte Aktion. Der rbb zitiert den Publizisten Sergey Lagodinsky mit den Worten, die Aktivitäten seien eine "hybride Intervention".

"Keine Gruppe, die politische Sichtbarkeit anstrebt"

Jannis Panagiotidis mahnt hingegen zur Vorsicht. Er ist Juniorprofessor für die "Migration und Integration der Russlanddeutschen" an der Universität Osnabrück. "Diejenigen, die da am Wochenende demonstriert haben, sind nur ein kleiner Teil der Community", sagt er. Auch offizielle Vertreter von Verbänden der Russlanddeutschen distanzierten sich von den Demonstrationen und ihren Veranstaltern.

Insgesamt leben 4,5 Millionen deutschstämmige Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Deutschland, darunter etwa zwei Millionen Russlanddeutsche - und die meisten von ihnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie überhaupt nicht auffallen. Gerade deswegen gilt ihre Integration als Erfolgsstory. Das zeigte etwa ein Forschungsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2013, der sich mit deutschen Spätaussiedlern beschäftigte. Ihre schulische und berufliche Qualifikation sei relativ hoch, die Arbeitslosenquote gering. Die Kriminalität junger Männer sei zwar im Vergleich zu einheimischen Jugendlichen leicht erhöht, aber rückläufig. Im Vergleich zu anderen Migrantengruppen seien sie zufriedener mit ihrem Leben in Deutschland. Sie seien kaum politisch aktiv und an Politik nur mäßig interessiert.

Gerade deswegen, das sagt auch Panagiotidis, ist es ungewöhnlich, dass sie am Wochenende explizit als Russlanddeutsche gemeinsam demonstrierten - in seiner Erinnerung ist es das erste Mal überhaupt. "Das ist eigentlich eine Gruppe, die keine politische Sichtbarkeit anstrebt", sagt er.

Kontrast zwischen deutschen und russischen Berichten

Innerhalb der Russlanddeutschen, das zeigen Studien, herrscht jedoch ein großer Zusammenhalt und eine enorme Vernetzung. Mehr noch: "Die Russlanddeutschen sind über die sozialen Medien eingebunden in eine grenzüberschreitende russische Diaspora", sagt Panagiotidis. Russische Medienberichte spielen in der Community eine besondere Rolle - auch wenn Studien zeigen, dass Russlanddeutsche neben russischen durchaus intensiv deutsche Medien konsumieren. "Der Kontrast zwischen dem, was die russischen und die deutschen Medien berichten, ist natürlich sehr stark", sagt Panagiotidis. Das führe zu wachsendem Misstrauen und Verunsicherung, spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts.

Dass sich Russlanddeutsche in der Flüchtlingsfrage der Haltung des Kreml anschließen, der Chaos in Europa beschwört, ist nicht ungewöhnlich. Migranten, die schon länger in einem Land sind, stehen häufig neu hinzukommenden Fremden besonders skeptisch gegenüber. "Zynisch könnte man argumentieren, dass das sogar ein Zeichen von Integration ist", sagt Panagiotidis. "Sobald ich gegen Ausländer bin, positioniere ich mich schließlich als Inländer."

Bei den Russlanddeutschen kommt hinzu, dass sie sich nie als Migranten sahen. Sondern als Deutsche. "Selbst in der Sowjetunion hat sich eine bestimmte Vorstellung von Deutschsein gehalten. Zum Beispiel das Narrativ, dass man die Häuser und Gärten der Deutschstämmigen daran erkenne, dass sie besonders gepflegt sind", erklärt Panagiotidis. Bestimmte Stereotype, die die Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion gepflegt hätten, unterschieden sich allerdings beträchtlich von dem, auf was sie in Deutschland trafen.

Der Wissenschaftler berichtet zum Beispiel, dass insbesondere ältere Russlanddeutsche nach der Ankunft in Deutschland irritiert gewesen seien, dass es hier so viele "Ausländer" gibt. Auch die Autoren des Forschungsberichts des BAMF beschreiben ein auffälliges Misstrauen der deutschstämmigen Aussiedler gegenüber der türkischen Community. Das allerdings auf Gegenseitigkeit beruhe. Nun richtet sich das Misstrauen eben gegen die neu angekommenen Flüchtlinge.

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Kommentar von Julian Hans, Moskau

Die Verunsicherung geht über Russlanddeutsche hinaus

Panagiotidis warnt davor, allein russische Propaganda für die flüchtlingsfeindliche Haltung einiger Russlanddeutscher verantwortlich zu machen. Zwar sei der Auslöser spezifisch für die Community, die dahinterliegende Verunsicherung und das Misstrauen jedoch nicht. "Die Proteste haben mindestens genauso viel mit den Ereignissen von Köln zu tun wie mit russischen Medienberichten", sagt er.

Zwar habe der Kreml zweifellos ein Interesse daran, die angebliche Vergewaltigung auszuschlachten. Doch die gefühlte Bedrohung der öffentlichen Ordnung durch sexuelle Gewalt gehe über die russlanddeutsche Community weit hinaus, ebenso das Misstrauen gegen deutsche Medien und die Bundesregierung. "Das Chaos-Szenario beschwört nicht nur Putin", sagt der Forscher. Bis in die SPD und die Union hinein werde seit Köln die Gefährlichkeit "arabischer Männer" diskutiert, und das nicht immer sachlich. "Die Russlanddeutschen nehmen an einem breit geführten Angstdiskurs teil", sagt Panagiotidis.

Vom konkreten Fall der angeblich vergewaltigten Lisa hat sich die Diskussion dabei längst gelöst. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gerade gegen zwei Männer Anfang 20 wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch. Was genau jedoch in der Zeit geschah, in der Lisa verschwand, weiß sie bisher nicht.

Lesetipp:

Die Motive des Kreml beschreibt SZ-Korrespondent Julian Hans in diesem Kommentar.

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