Zeugenaussagen zu Vierfachmord in Annecy:"Wir wussten nicht, ob wir in Gefahr sind"

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Wanderer waren die ersten Personen am Tatort des Vierfachmordes in den französischen Alpen. In Interviews schildern die Zeugen, welchen Horror sie auf dem Waldparkplatz bei Annecy vorfanden. Für die Ermittler sind die Aussagen von großer Bedeutung - denn die überlebenden Schwestern werden bewusst nicht befragt.

Vier Menschen starben am vergangenen Mittwoch am hellichten Tag auf einem Waldparkplatz oberhalb der Stadt Annecy in den französischen Alpen. Dass dem Verbrechen leicht noch weitere Menschen zum Opfer hätten fallen können, legen nun Aussagen von Zeugen nahe. Ein britischer Wanderer traf nach Medienberichten offenbar nur Minuten nach dem Massaker an einer irakisch-britischen Familie und einem französischen Radfahrer am Tatort ein.

Neben den Zeugenaussagen erhoffen sich die Ermittler auch von der Spurenauswertung des Tatortes in den französischen Alpen Erkenntnisse über den Mord an vier Menschen. (Foto: dpa)

Als der frühere Pilot der Royal Air Force, der in der Gegend ein Ferienhaus besitzt, den Parkplatz betrat, habe er das Auto der Familie al-Hilli mit zerschossenen Scheiben und laufendem Motor vorgefunden, berichtet der Guardian. Die schwerverletzte, ältere Tochter des Ehepaars sei zu diesem Zeitpunkt noch bei Bewusstsein gewesen: Blutüberströmt sei das siebenjährige Mädchen auf den Mann zugelaufen und vor ihm zusammengebrochen.

Der Brite rannte daraufhin den Berg hinab, um im nahegelegenen Örtchen Chevaline Hilfe zu holen. Ein anderer Wanderer, der mit Freunden eine Tour in der Region machte, berichtete der Zeitung Le Parisien über seine Begegnung mit dem ersten Zeugen am Tatort: "Er war in Panik (...). Er erklärte mir in schlechtem Französisch, dass sich ein Stückchen weiter oben ein Drama abgespielt habe. Er wollte die Rettungskräfte verständigen."

"Für mich hat es den Anschein gehabt, dass sie tot ist"

Gemeinsam sei man den Berg wieder hinaufgestiegen zu dem Parkplatz. Die Siebenjährige sei da aber schon nicht mehr ansprechbar gewesen: "Sie hat nicht auf unsere Rufe geantwortet. Ich habe in die Hände geklatscht, aber sie hat nicht reagiert. Ich habe sogar einige Worte auf Englisch gesagt, weil ich gesehen habe, dass das Auto in Großbritannien registriert war, aber ich habe keine Reaktion bekommen. Für mich hat es den Anschein gehabt, dass sie tot ist."

Weiter sagte Philippe Didierjean Le Parisien: "Ein paar Minuten früher und wir hätten an Stelle des ermordeten Radfahrers sein können. Wir wussten nicht, ob wir in Gefahr sind oder nicht - ob die, die das alles getan hatten, noch in der Nähe sind oder nicht." Ob sich der oder die Täter zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch am Tatort aufhielten, ist eine der Fragen, auf die die Ermittler eine Antwort suchen.

Auch eine Woche nach der Bluttat sind die Hintergründe des Vierfachmordes völlig unklar. Sicher ist nur, dass die Opfer regelrecht hingerichtet wurden. Den Obduktionsberichten zufolge starben alle durch Kopfschüsse. Das siebenjährige Mädchen, das dem Zeugen leblos erschien, überlebte die Tat mit schwersten Schuss- und Schlagverletzungen. Auch ihre jüngere Schwester, die sich im Fußraum unter den Beinen ihrer toten Mutter und Großmutter versteckt hielt, kam mit dem Leben davon. Die Kinder gelten als wichtigste Tatzeugen - wurden jedoch bislang noch nicht vernommen.

Zwar ist die Siebenjährige mittlerweile aus dem künstlichen Koma erwacht. Die Ermittler wollen aber abwarten, bis das Mädchen von sich aus zu reden beginnt. "Allzu häufig will ein Kind gefallen und hat deshalb die Tendenz 'ja' zu sagen, weil es denkt, dass dies die gewünschte Antwort ist. Das ist nicht gut für eine Ermittlung", sagte der Staatsanwalt von Annecy, Eric Maillaud, der französischen Presse.

Zur Rekonstruktion der Geschehnisse vor der Tat und der Tat selbst setzen die Ermittler deshalb verstärkt auf die Aussagen anderer Zeugen. Die französische Polizei weitete ihre Befragung im Umkreis des Tatortes aus, um nachvollziehen zu können, wo sich die Familie al-Hilli in den Stunden vor dem Verbrechen aufhielt. Demnach hatte die Familie kurze Zeit nach ihrer Ankunft in der Region Anfang September den Campingplatz gewechselt.

Zudem setzten die Ermittler ihre Nachforschungen in Frankreich und Großbritannien fort. Am Dienstag wurde erneut der Tatort untersucht. Dabei sei es vor allem darum gegangen, herauszufinden, wie lange Opfer oder Täter benötigt haben könnten, um bestimmte Strecken zurückzulegen, hieß es von Seiten der Ermittler. Man erhoffe sich so, eine bessere Vorstellung vom zeitlichen Ablauf des Verbrechens zu bekommen.

Am Donnerstag sollen ein französischer Untersuchungsrichter und Staatsanwalt Maillaud nach Großbritannien reisen, wie aus Ermittlerkreisen verlautete. Dort wurde das Haus der Familie al-Hilli am Dienstag weiter untersucht und ein Safe geöffnet. Was in dem Safe war, wurde nicht bekannt.

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