Vater des Winnenden-Amokläufers vor Gericht:Im Namen des Sohnes

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Tim K. hat in Winnenden 15 Menschen erschossen - mit einer Waffe und Munition seines Vaters. Der steht nun wegen fahrlässiger Tötung vor dem Stuttgarter Landgericht. Doch ist Jörg K. wirklich mitschuldig am Verbrechen seines Sohnes?

Nicolas Richter

Ist dieser Mann nicht schon bestraft genug? Sein Sohn hat 15 Menschen erschossen, darunter etliche Schülerinnen und Schüler, und am Ende auch sich selbst. Er war 17 Jahre alt. Die Waffe und die Munition gehörten dem Vater, der hatte sie nicht sicher verwahrt. Vielleicht gibt es für Eltern keine grausamere Strafe, als dies erleben zu müssen.

Nach seinem Amoklauf hat sich Tim K. vor einem Autohaus in Wendlingen am Neckar selbst erschossen. (Foto: dpa)

Gleichwohl steht Jörg K. von Donnerstag an vor dem Landgericht Stuttgart, weil er seine Waffen nicht ordentlich weggeschlossen hat. Die Justiz macht ihm diesen Prozess wider Willen: Etliche Juristen in Stuttgart halten das Verfahren für Unfug.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wollte die Ermittlungen eigentlich mit einem leisen Strafbefehl beenden. Doch Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger intervenierte. Ihm, wie auch den Familien, geht es um "Generalprävention", also um Abschreckung.

"Wer eine Waffe nicht richtig aufbewahrt, soll auch für den Schaden geradestehen, den ein anderer damit anrichtet", sagt Jens Rabe, einer der Opferanwälte. Dieses Signal soll all jenen gelten, die der Meinung sind, sie bräuchten zur Selbstverwirklichung Schusswaffen.

Die Staatsanwaltschaft hat Jörg K. dann wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Ob die Stuttgarter Richter in den kommenden Monaten davon zu überzeugen sind, ist eine andere Frage.

Die Fahrlässigkeit des Vaters als Ursache der späteren Schießerei?

Die 3. Große Jugendkammer des Landgerichts hat die Anklage bereits zerpflückt. Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung hat sie in ihrem Eröffnungsbeschluss am 5. Mai verworfen und nur allgemeine Verstöße gegen das Waffenrecht für prozesswürdig erklärt. Die 18. Strafkammer des Landgerichts, vor der jetzt verhandelt wird, ist an diese Entscheidung der Kollegen nicht gebunden - doch sind in dem Beschluss vom 5. Mai etliche Argumente zu finden, die den Vater entlasten.

Im Kern erklären die Richter der Jugendkammer, eine fahrlässige Tötung sei dem Vater im Strafprozess nicht sicher nachzuweisen. Dafür müsste feststehen, dass seine Pflichtverletzung allein die tödlichen Schüsse ermöglichte, dass seine Fahrlässigkeit mithin die Ursache der späteren Schießerei war.

Dafür spricht einiges: Jörg K. hatte seine Beretta 92 im Schlafzimmerschrank unter Kleidern versteckt; das Magazin mit zehn Patronen lag im Nachttisch, ein weiteres in einer Sporttasche im Keller.

War dieser Leichtsinn von Jörg K. also Ursache der Katastrophe? Oder wäre es zum Amoklauf auch dann gekommen, wenn der Vater Beretta sowie Munition im Waffentresor verstaut hätte?

Diese Frage wird im Mittelpunkt des Strafprozesses stehen. Ein Zeuge hat den Ermittlern davon erzählt, wie ihm Tim K. vor Jahren den Tresor gezeigt habe. Der Zeuge konnte sich zwar nicht erinnern, wie Tim ihn geöffnet habe, es seien jedenfalls "ziemlich viele Waffen" drin gewesen.

Die Richter der Jugendkammer ziehen daraus folgenden Schluss: Wenn Tim K. den Tresor öffnen konnte, dann spielt es auch keine Rolle, wo der Vater seine Beretta hinlegte - sein Sohn hätte sie und die Munition ohnehin gefunden. Dann könne man den Vater aber auch nicht wegen fahrlässiger Tötung bestrafen, weil es sowieso zum Amoklauf gekommen wäre. Das Fehlverhalten des Vaters hätte die Geschehnisse nicht beeinflusst.

Der Beobachter wird nun denken: Also gut, dann liegt der Fehler des Vaters eben darin, dass er seinen Sohn den Sicherheitscode für den Waffentresor wissen ließ. Zeugen haben berichtet, dass sich Tim K. öfters damit brüstete, den Code zu kennen.

Tim K. kannte nach eigenen Aussagen den Code zum Waffenschrank des Vaters - ist dieser deshalb mitschuldig am Verbrechen seines Sohnes?

Die am Tatort gefundenen Hülsen und Patronen stammen wahrscheinlich aus dem Panzerschrank des Vaters. Tim K. hatte 285 Patronen dabei, weit mehr also, als der Vater im Haus hatte liegen lassen. Weil keine andere Quelle ermittelt wurde, kann die Munition also nur aus dem Safe stammen. Der Vater könnte also schuldig sein, weil er den Code offenbarte.

Die Jugendkammer am Landgericht allerdings hat gefragt: Wie genau hat der Vater hier eine Pflicht verletzt?

Es gibt bisher keinen belastbaren Hinweis dafür, dass Jörg K. den Code verraten hat. Der Vater hat ausgesagt, nach seiner Überzeugung habe sein Sohn den Code nicht gewusst. Nun war die Zahlenfolge nicht schwer zu erraten: 12015903. Es ist das Geburtsdatum des Vaters und der Geburtsmonat der Mutter. Die Familie nutzte diesen Code zudem für die Hausalarmanlage.

Hatte der Vater also einen "zu einfachen" Code gewählt?

Nein, sagt die Jugendkammer. Als Jörg K. den Code festlegte, waren seine Kinder noch sehr klein.

"Auch die Eltern der Opfer haben Kinder verloren"

Aber es hätte vielleicht später Grund für mehr Vorsicht gegeben, zum Beispiel, als Tim erzählte, unter einer bipolaren Störung zu leiden, und deswegen psychologisch behandelt wurde.

Aber auch hier zeigt sich die Jugendkammer großzügig. Dass der Sohn sich für Waffen interessiert habe, sei allein kein Anlass gewesen, den Code zu ändern. Außerdem habe die Psychotherapeutin damals keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung durch Tim K. festgestellt.

Die Jugendkammer kann also nicht ausschließen, dass Tim K. sich auch dann hätte bewaffnen können, wenn sein Vater alles im Tresor versteckt hätte. Da die Große Strafkammer an den Eröffnungsbeschluss nicht gebunden ist, kann das Urteil gegen Jörg K. am Ende aber auch anders lauten.

Die Angehörigen und die Staatsanwaltschaft werden die bisherige Argumentation jedenfalls anfechten. Einige Juristen finden, der Vater müsse sich die Tötungen allein deshalb zurechnen lassen, weil sein Verhalten das Risiko erhöht habe, dass etwas passiert. Die höchsten Gerichte aber lehnen diese Sichtweise als zu weitreichend ab.

Die Angehörigen ärgern sich darüber, wie rücksichtsvoll die Justiz den Vater bisher behandelt hat. "Auch die Eltern der Opfer haben Kinder verloren, aber im Gegensatz zu Tims Vater haben sie sich rechtstreu verhalten", sagt Anwalt Rabe.

Wie der Prozess auch ausgeht - den Familien ist es wichtig, dass er überhaupt stattfindet. "Die Angehörigen", sagt Rabe, "wollen wissen: Wie tickt der Vater, was ist das für einer, wie stellt er sich seiner Verantwortung?"

© SZ vom 13.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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