Missbrauch:Kein Opfer soll sich rechtfertigen müssen

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Bald nach ihrem Fall begann "Me Too": Chanel Miller. (Foto: Mariah Tiffany/dpa)
  • 2015 missbrauchte der Stanford-Student Brock Turner eine bewusstlose Frau.
  • Der sogenannte "Stanford Rape Case" war einer der meistbeachteten Fälle sexueller Gewalt in Amerika vor "Me Too".
  • Bisher war der Name des Opfers nicht bekannt, nun hat Chanel Miller ein Buch geschrieben.

Von Johanna Bruckner, New York

Chanel Miller hat ein Talent für eindringliche Sätze, einer der wuchtigsten steht direkt im Vorwort von "Know My Name". "Ich bin ein Opfer", schreibt die heute 27-Jährige, "ich habe keine Probleme mit diesem Wort, nur mit der Idee, dass das alles ist, was ich bin." Vier Jahre und knapp acht Monate lang ist Chanel Miller für die Öffentlichkeit genau das: das anonyme Opfer im "Stanford Rape Case", einem der meistbeachteten Fälle sexueller Gewalt in Amerika vor "Me Too".

Der Prozess endet 2016 mit einem Schuldspruch - und einem Strafmaß, das zumindest den progressiven Teil dieses schon vor Donald Trump zersplitterten Landes entsetzt. Sechs Monate Gefängnis für den sexuellen Missbrauch einer bewusstlosen Frau. In seiner Begründung erklärt der Richter, der Angeklagte sei bereits durch die enorme mediale Aufmerksamkeit gestraft. Am Ende sitzt Brock Turner, Student an der Elite-Uni Stanford, Schwimmer, Olympia-Aspirant, drei Monate ab.

Um die Talente und Hoffnungen seines Opfers geht es weder im Verfahren noch in der Berichterstattung. Für Chanel Miller, zum Tatzeitpunkt 22 Jahre alt, bleibt ein Name: Emily Doe. Das Pseudonym soll Miller schützen. Doch es fühlt sich schnell an wie ein zu enges Korsett. Im Gerichtssaal geht es weniger um die Moral des Täters als die des Opfers. Miller hatte vor dem Übergriff eine Studentenparty besucht und mit viel Alkohol gefeiert. Im Kreuzverhör der Verteidigung wird daraus eine Waffe. Sie haben den Wodka geext, richtig? Im College haben Sie viel gefeiert, richtig? Sie hatten schon vorher Blackouts, richtig?

Im Zeugenstand musste Chanel Miller auf diese Fragen antworten. In ihrem Buch, das in dieser Woche auch auf Deutsch erscheint, stellt sie sie als das bloß, was sie sind: ein zynischer, juristischer Kniff. Keine Emily Doe dieser Welt, das ist Millers Botschaft, sollte sich rechtfertigen müssen.

"Wir behandeln sie wie Monster. Das ist falsch: Es sind gewöhnliche Männer."

In den Kommentarspalten von Onlinemedien wird Emily Doe vorgeworfen, doch selbst schuld zu sein. "Sie schienen verärgerter darüber, dass ich mich verletzbar gemacht hatte, als darüber, dass er meine Verletzbarkeit ausgenutzt hatte", schreibt Miller. Sohaila Abdulali, die als 17-Jährige Opfer einer Gruppenvergewaltigung in Indien wurde und Autorin des viel beachteten Buchs "What We Talk About When We Talk About Rape" ist, spricht von einem gesellschaftlichen Unbehagen gegenüber Opfern sexueller Gewalt. "Wir mögen sie nicht. Weil sie infrage stellen, was wir über Sex und Vergewaltigung zu wissen glauben." Fast jeder öffentlich diskutierte Fall sexueller Gewalt der jüngeren Vergangenheit war begleitet von Misstrauen gegenüber dem Opfer. Mal offen geäußert, mal hinter vorgehaltener Hand. Warum trifft sich Schauspielerin Paz de la Huerta weiter mit Harvey Weinstein, obwohl er sie mehrmals vergewaltigt haben soll? Warum meldet sich Christine Blasey Ford erst, als Brett Kavanaugh an den Supreme Court berufen wird? Warum ist Natascha Kampusch nicht schon früher geflohen? Es gehe in der Debatte immer noch zu viel darum, was das Opfer getan habe, und zu wenig darum, wer vergewaltige, sagt Soziologin Abdulali. "Wir behandeln sie wie Monster, die irgendwo da draußen sind. Das ist falsch: Es sind gewöhnliche Männer."

Chanel Miller entmenschlicht Brock Turner in ihrem Buch nicht, sie schenkt ihm aber auch nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig. Lieber konzentriert sie sich auf die Lichtblicke in ihrem Martyrium. Die beiden schwedischen Austauschstudenten, die sie gerettet haben. Die intuitiv jene Gefahrenlage erkannt haben, die später vor Gericht kleingeredet und verharmlost wird. Miller schreibt - immer noch ein bisschen ungläubig - über die überwältigende Resonanz, als das Portal Buzzfeed das Manuskript ihres Abschlussstatements vor Gericht veröffentlicht. Zwölf Seiten roher Schmerz, aber auch klare, bestechende Analyse eines Systems, in dem das verlorene Potenzial eines jungen Mannes mehr zählt als das Leid einer jungen Frau. Dabei scheint sie sich durchaus bewusst zu sein, dass der Impuls, das Versöhnliche im Schrecklichen zu suchen, auch ein antrainierter weiblicher Reflex ist. "Ich habe gelernt, dass ich Wasser bin", schreibt sie. "Die glühenden Kohlen zischen und erlöschen, wenn sie mich erreichen." Die Kohlen - das sind für Miller Männer wie Turner, Weinstein oder Kavanaugh. Für Miller symbolisieren sie eine zu Ende gehende Ära zerstörerischer Maskulinität.

Und tatsächlich, vor "Me Too" wäre Millers Buch vielleicht nicht so uneingeschränkt positiv aufgenommen worden. Möglicherweise wäre ihr zum Vorwurf gemacht worden, dass sie zu literarisch über ihr Trauma schreibt. Dass sie womöglich sogar etwas Geld damit verdient. Sohaila Abdulali ist dennoch skeptisch. "Ich habe noch keine einzige Statistik gesehen, die beweisen würde, dass es auch nur eine einzige Vergewaltigung weniger gab wegen 'Me Too'."

© SZ vom 21.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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