Der Konjunktiv ist eine verlockende Versuchung. Wäre es besser gewesen, wenn sie damals keine Kinder bekommen hätte, oder zumindest keine drei? Könnte sie heute nicht ein schönes Leben haben, tun und lassen, was sie will? Ja und ja, sagt Manuela Weber. "So hart das klingt: Meine jüngste Tochter hätte ich mir sparen können." Müsste die 59-Jährige heute noch einmal entscheiden, nein, sie würde keine Kinder mehr in diese Welt setzen. So leichtfertig diese Aussage scheint, so schwer ist der Weg, der zu diesem Eingeständnis führt. Stress, Überlastung, Verzweiflung, Selbstvorwürfe - und am Ende: ein Gefühl der Reue.
Frauen, die die Entscheidung für ein Kind bereuen, mag es immer schon gegeben haben. Neu ist, dass einige nun öffentlich darüber reden. Eine Studie aus Israel hat erstmals belegt, dass es Mütter gibt, die sich wünschen, sie hätten ihre Kinder nie bekommen. Die Befragten waren sich einig: Könnten sie die Zeit zurückdrehen, sie würden nicht noch einmal Mutter werden.
"Regretting Motherhood" nennt die israelische Soziologin Orna Donath dieses Phänomen, das derzeit unter dem gleichnamigen Hashtag im Netz für Aufsehen sorgt. Und für das es so viele unterschiedliche Vorgeschichten wie Frauen gibt. Eines lässt sich aber festhalten: Dass Frauen mit der Geburt eines Kindes automatisch das große ewige Glücksgefühl überkommt, ist ein Trugschluss. Nicht nur in Israel.
"Es könnte so schön sein, hätte ich das dritte Kind nicht bekommen"
Heute lebt Manuela Weber in Hürth, einer kleinen Stadt nahe Köln, zusammen mit ihrer 24-jährigen Tochter und dem 20 Monate alten Enkelkind in einer viel zu kleinen Wohnung. Gefangen in einem Leben, das sie sich zwar ausgesucht, aber niemals so gewünscht hatte. Und von dem sie sagt: "Es könnte so schön sein, hätte ich das dritte Kind nicht bekommen."
Die erste Ehe, aus der die beiden älteren Töchter (35, 33) stammen, scheiterte. Ihr Mann ging, blieb aber als Vater. Das Verhältnis zu den Kindern ist bis heute gut. Zehn Jahre nach der Scheidung lernt sie wieder einen Mann kennen. Der neue Partner wünscht sich ein Kind, Manuela Weber bekommt noch eine Tochter. Kurz nach der Geburt des Kindes geht auch diese Beziehung kaputt - und bringt Weber nicht nur emotional, sondern vor allem finanziell an ihre Grenzen. Während sie bei den älteren Töchtern mehrere Jahre zuhause bleiben konnte, arbeitet sie jetzt, nach der dritten Geburt, schnell wieder. Nachts an der Tanke, tagsüber als Putzfrau. "Das hat mich zerstört", sagt Weber. Mehrfach wird sie nachts an der Tankstelle bedroht, zwei Mal überfallen, Pistolen vor dem Gesicht und eine abgeschlagene Flasche am Hals.
Seit dem letzten Vorfall arbeitet die 59-Jährige nicht mehr. Zumindest nicht für Geld. Privat schuftet sie weiter: Die jüngste Tochter hat mittlerweile selbst ein Kind, ebenfalls ohne Mann. Und Manuela Weber, Jahrzehnte alleinerziehend, arbeitsunfähig, erschöpft, kümmert sich um ihre Töchter und ihre Enkelin - nur nicht um sich selbst. Mutter auf Lebzeiten, alles für die Kinder.
Überfrachtetes Mütterbild
Soziologen, Psychologen und Therapeuten sagen: Mütter müssen auch auf sich schauen, Mütter müssen sich Zeit nehmen und sich Ruhe gönnen. Manuela Weber sagt: Mütter machen das nicht. Mütter kümmern sich. Immer.
Weil sie müssen? Weil sie wollen? Oder das nicht abstellen können? Weil es sonst niemand macht? Es gibt offenbar viele Gründe für dieses Mutterunglück. "Einerseits ist es der immense Druck von außen, andererseits der, den sich Mütter selbst machen", sagt Anne Schilling, Leiterin des Müttergenesungswerks in Berlin. Das Mutterbild sei überfrachtet, junge Frauen würden sich das anders vorstellen als bei ihrer eigenen Mutter. Bilderbuch-Ehe, Karriere und Kind. Die Realität allerdings ist weit entfernt von diesem Ideal. Frauen haben ein modernes Bild im Kopf - leben aber Traditionen.
Ein Zwiespalt, so wie bei Judith, deren Name auf ihren Wunsch hin von der Redaktion geändert wurde: "Auf der einen Seite bin ich als Mutter überglücklich und über alle Maßen stolz auf mein Kind", sagt die junge Frau. "Auf der anderen Seite bin ich als eigenständige Persönlichkeit vollkommen unglücklich." Mit 24 sei sie Mutter geworden, und damit arbeitslos. Den Job in der Medienbranche könne sie jetzt vergessen, während ihr Partner dort weiter Karriere macht. Ungerecht, findet sie. Keineswegs, finden andere: Mutterglück, Vollzeitjob, bezahlt mit Liebe, ist doch toll! "Verantwortung darf man nicht mit Glück verwechseln", sagt die 24-Jährige. "Manchmal", sagt die junge Frau, "möchte ich nur noch weg, alles hinter mir lassen."
Es nicht immer allen Recht machen
Einfach mal wegfliegen, schön wär's. Aber da sind die Kinder, der Haushalt, oft ein Job und manchmal kein Mann. All die Pflichten, die einer Mutter schwer am Rockzipfel hängen und sie auf dem Boden des Alltags halten. Die gesellschaftlichen Bedingungen seien eigentlich für alle gleich gut beziehungsweise gleich schlecht, findet Kinder- und Jugendlichentherapeutin Jennifer Hüge, "aber an der Einstellung kann man arbeiten." Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Bundesverbands für Burnout-Prophylaxe und Prävention (DBVB) rät Müttern, eigenen Bedürfnissen nachzugehen und sich zu überlegen: Welche Hobbys hatte ich vor den Kindern? Und den Schwimm-, Yoga- oder Malkurs wieder zu besuchen, wenn einem das Freude mache. Wichtig sei, Aufgaben an andere abzugeben. Und vor allem: Es nicht immer allen Recht machen zu wollen.
Doch verkennt das nicht die Realität all jener Mütter, denen nicht einmal die Zeit bleibt, darüber nachzudenken, was sie früher gerne gemacht haben? Weil sie alleinerziehend sind, und die Großeltern zu weit weg wohnen, um bei der Kinderbetreuung auszuhelfen. Und weil ihnen schlicht das Geld fehlt, um sich auch nur eine kurze Auszeit in Form eines Babysitters zu erkaufen.
"Alles haben" versus "haben, was man braucht"
Auch Frauen mit psychischen Problemen finden sich in der Debatte um "Regretting Motherhood" wieder. Ihre Beweggründe sind nicht so offensichtlich und nachvollziehbar wie bei Frauen, die von Männern oder Arbeitgebern im Stich gelassen wurden. Sabrina B. ist sich dessen bewusst und hat zugleich Angst davor, dass die Leute in ihrem Umfeld sagen könnten: Warum ist sie unglücklich? Sie hat doch alles.
Ein Kind zu bekommen, war nicht ihr Plan, aber allen anderen mehr als Recht: dem Mann, den Eltern, den Freundinnen. "Ich habe schon die Schwangerschaft gehasst. Aber das darf man ja nicht sagen." Sie hatte Job, Haus und Hund, ihr Mann arbeitet von zuhause - großes Glück, so scheint es. Aber die 28-Jährige ist nicht glücklich. Da ist nichts. Ein Missempfinden, das die junge Frau nicht beschreiben kann und über das sie nicht redet, mit niemandem.
"Starke Bindungsängste oder depressive Stimmungen haben tiefere Ursachen", sagt Therapeutin Hüge. "Alles haben" liegt manchmal weit entfernt von "haben, was man braucht". Auch Sabrina hatte eigentlich alles, am Ende sogar mehr, als sie wollte - bis es ihr zu viel wurde.
Dann gibt es noch die Frauen, die alles wollten: Karriere, Kinder, Freunde, Hobbies, Freiheit. Und am Ende sagen: Ich hab ja nichts mehr - vom Leben. Ich habe mir das so nicht vorgestellt. Muss das so sein? War es der falsche Zeitpunkt oder die falsche Entscheidung? Sie hadern mit sich, nicht mit ihren Kindern.
Manuela Weber würde ihre drei nun erwachsenen Töchter niemals hergeben wollen. Aber wenn sie über die vergangenen 40 Jahre nachdenkt, kommt sie zu dem Schluss: "Entweder du hast ein Leben, oder du hast Kinder." Die 59-Jährige zieht gerade um, wieder in eine eigene Wohnung. Natürlich bleibt sie in der Nähe der Tochter, dem Enkel zuliebe. Sie sagt: "Ich bin eine unglückliche Mutter, aber ich bin auch eine glückliche Mutter. Ich hasse meine Kinder, aber ich liebe meine Kinder auch." Was gewesen wäre, wenn es die nie gegeben hätte? Der Konjunktiv mag verlockend sein. Doch die Realität, sie hält einen zurück.