Ungarn: Kolontár:Angst vor der nächsten Welle

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Giftig wie die Hölle: Nachdem eine Schlammlawine das ungarische Dorf Kolontár begraben hat, droht nun ein zweites Becken zu brechen - weitere 700.000 Kubikmeter der roten Brühe könnten sich über das Land verteilen.

Michael Frank

Seltsame Zuversicht in der Hoffnungslosigkeit lässt die Menschen anpacken: Sie räumen auf in Kolontár, dem ungarischen Dorf unter dem Rotschlamm, obwohl sie wissen, dass es wohl auf immer unbewohnbar bleiben wird. Und dann Panik: Samstag früh wird der Ort komplett geräumt. Ministerpräsident Viktor Orbán ist ein zweites Mal herbeigeeilt, gibt selbst die Anweisung.

Der ungarische Ort Kolontár ist unter einer Lawine von giftigem Rotschlamm begraben worden - und schon wieder droht ein Damm zu brechen. (Foto: AP)

Das Abraumbecken des Aluminiumwerkes MAL, aus dem sich am Montag eine giftige Flut ins Land ergossen hat, könnte ein weiteres Mal brechen. Weitere 700.000 Kubikmeter der roten Brühe könnten hinausschwappen. Eine Substanz, die ätzt und giftig ist wie die Hölle, gesättigt mit Arsen, Quecksilber und Chrom.

Hinter dem geborstenen Becken gilt ein weiterer Schlammteich als labil: Man pumpt ständig Lauge in die Gewässer ab, um den Druck zu mindern, weshalb weiter Säure zum Neutralisieren nachgekippt werden muss. Bricht das hintere Becken, rast die Masse auch durch das schon geborstene und schwemmt weitere Giftsedimente aus. Man hat im Deich Risse gefunden, die sich stündlich erweitern. Messpunkte melden, dass sich die Dämme des Hauptsammelbeckens in einer Nacht um sieben Zentimeter auseinander bewegt haben. Offenbar rutscht der ganze Untergrund.

Kolontárs 800 Bewohner werden eilends in Turnhallen der weiteren Umgebung einquartiert, auch die 5300 Menschen im Städtchen Devecser müssen ihre Sachen packen, um im Ernstfall ebenfalls sofort gehen zu können. Eine Stunde Vorwarnzeit hat man. Am Wochenende wurde die siebte Leiche unter dem Gift ausgegraben, das sich am vergangenen Montag über fünf Dörfer und 40 Quadratkilometer ergossen und das Leben in den Bächen abgetötet hat. Tausende Stück Vieh sind tot. Ebenso die Hoffnung, hier könne man weiterleben.

Ministerpräsident Orbán hat angekündigt, die Schuldigen scharf aburteilen zu lassen. Die Werksleitung aber bleibt dabei: Das sei eine "Naturkatastrophe", höhere Gewalt also. Fachleute widersprechen. Ein Unfall gleicher Art vor 24 Jahren sei vertuscht worden. Die Deiche seien mehrmals einfach aufgeschüttet worden, um ihr Fassungsvermögen zu vergrößern, ohne dass ihre Struktur verstärkt worden wäre - eine Todsünde im Dammbau. Und schon im Juni hätten Luftaufnahmen rote Schlieren in den Ablaufkanälen gezeigt, sei also bereits Rotschlamm ausgetreten.

Jetzt baut der Katastrophenschutz eilig neue Dämme im Ort selbst und durch das rote Giftland. Bei einem neuen Bruch sollen wenigstens die Feststoffe im Schlamm aufgefangen und der unversehrte Rest Kolontárs und der anderen Dörfer vor der neuen Flut bewahrt werden. Die Regierung hat den Besitzern der Aluminiumschmelze die Lizenz entzogen. Wird man den Betrieb ganz schließen? Keiner weiß es.

1500 Leute arbeiten hier, die Existenz von zehntausend Menschen hängt am Werk. Sonst lebt hier, wer nicht ins Industriezentrum Györ pendelt, nur von den Gärten, Äckern, Feldern, die nun auf Jahre verseucht sind. Das bisschen Tourismus - hauptsächlich auf Reiterhöfen - dürfte wieder versiegen. Wer will schon unbedingt Urlaub an einem Ort machen, wo man, so der Volksmund, gerade das "zweite Tschernobyl" erlebt hat?

© SZ vom 11.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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