Vergangene Woche, in der Nähe von Ulm: Ein Mann filmt einen sterbenden Motorradfahrer mit dem Handy - statt zu helfen. Laut Angaben der Polizei hörte der 27-Jährige auch dann nicht mit dem Filmen auf, als Rettungskräfte zum Unfallort kamen. Am Ende behinderte der Mann sogar den Notarzt und die Sanitäter bei ihrer Arbeit. Der Motorradfahrer starb noch am Unfallort.
Nicht erst seit vergangener Woche diskutieren Polizei, Rettungskräfte, Medien und Öffentlichkeit über Gaffer, Schaulustige, Menschen neben Absperrbändern mit einem Smartphone in der Hand. Meistens fällt das Urteil sehr einhellig aus: "abstoßend." Aber was weiß man wirklich über dieses Phänomen, über diese Menschen? Acht Fragen und Antworten.
Sind wir alle Schaulustige?
Auch wenn diese Frage weh tut, muss man sie mit ja beantworten. "Wir alle sind neugierig und damit schaulustig", sagt der Berliner Verkehrspsychologe Haiko Ackermann. "Das ist angeboren." Ständig scannen wir die Umgebung auf Neuigkeiten, Gefahren, Nahrung. Ein Überlebensreflex. Auch das Leid anderer zu betrachten ist bis zu einem gewissen Grad menschlich. Der Philosoph Alexander Grau spricht sogar davon, dass die Gemeinschaft der Schaulustigen im gewissen Sinne den Umgang mit der Katastrophe übe. Den Schaulustigen als abartig zu bezeichnen, geht also an der menschlichen Realität vorbei. Der Katastrophensoziologe Wolf Dombrowsky sagt: "Wir schauen alle hin."
Wo beginnt Gaffen?
Das hängt vom Kontext ab. Sich Fernsehbilder von Erdbeben und den Opfern anzuschauen, ist gesellschaftlich zum Beispiel völlig okay. Auch wenn es rational keinen Grund dafür gibt. Eine Meldung zu lesen, würde ja auch reichen. Der Verkehrspsychologe Ackermann sagt: "Das Gaffen fängt da an, wo die Rechte derer, die betroffen sind, gestört werden." Man sieht irgendwo ein schreckliches Ereignis, bleibt stehen, vergisst sich beim Schauen selbst und macht Dinge, die man "nüchtern" nicht täte: zum Beispiel Bilder von leidenden Menschen machen und untätig sein. Wolf Dombrowsky sagt: "Es kommt darauf an, ob wir nach dem Hinschauen wieder wegschauen oder sogar helfen. Wer nicht nur stur gaffen will, müsste also handeln."
Gab es früher weniger Schaulustige?
Nach einer Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen sind bei einem Verkehrsunfall im Schnitt zwischen 16 und 26 Zuschauer anwesend. Ganz schön viele. Das Problem: Diese Erhebung ist 28 Jahre alt. Man kann also nicht mit Sicherheit sagen, dass immer mehr gegafft wird oder dass das mit dem Gaffen "immer schlimmer" wird. Auch Wolf Dombrowsky, Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis-Hochschule Berlin, kennt die haarsträubenden Berichte von Einsatzkräften, die davon handeln, wie Schaulustige filmend den Weg versperren, wie Anfang Juli bei einem Busunfall auf der A9. Aktuelle Untersuchungen zum Phänomen Gaffen gibt es aber nicht. Inzwischen bauen Rettungskräfte immer häufiger sogenannte Gafferwände auf. "Aggressive oder renitente Gaffer sind sicher ein Problem", sagt Dombrowsky. Er hält solche Vorfälle aber für Ausnahmen. Zumindest gibt es kein verlässliches Zahlenmaterial.
Hat das auch etwas mit dem Smartphone zu tun?
Psychologen gehen davon aus, dass das Smartphone die gefühlte Distanz zwischen dem Gaffer und dem leidenden Menschen noch vergrößert. Oder wie es Wolf Dombrowksy ausdrückt: "Das Smartphone hält den Gaffer aus dem Schrecken der Situation heraus." Dieser Effekt wurde bereits von Kriegsfotografen beschrieben, die ihre Kamera wie ein Schutzschild empfinden - zwischen sich selbst und der Realität. Experten gehen davon aus, dass nur eine kleine Gruppe absichtlich an Unfallorte fährt, um Handyvideos zu drehen. Aber auch Unfall-Videos, die zufällig entstanden sind, bekommen im Internet viel Aufmerksamkeit, ein Sog entsteht, dem sich Schaulustige nur schwer entziehen können. Jost Kobusch, ein 25-jähriger Bergsteiger, filmte zufällig ein Lawinenunglück am Mount Everest, das 18 Menschen das Leben kostete. Kobusch wurde mit seinem Youtube-Video anschließend berühmt und hat inzwischen ein Buch darüber geschrieben.
Ist Gaffen ein Gruppenphänomen?
Nur wo schon zwei, drei Leute stehen und schauen, stellen sich auch andere hinzu. Man könnte also sagen: Die Gruppe macht das Gaffen erst möglich, weil es das Schauen interessanter macht und gleichzeitig auch erträglicher. "Alleine hat man keine Sicherheit darüber, dass es in Ordnung ist, zu schauen", sagt Katastrophensoziologe Dombrowksy. Wenn einer dann das Handy zückt, machen das kurz darauf alle.
Welche Rolle spielen die Medien?
"Naja", sagt der Verkehrspsychologe Haiko Ackermann. "Es wird uns doch vorgelebt, wie berühmt bestimmte Reporter werden können." Auch Wolf Dombrowsky sagt: "Die Medien vermitteln uns doch jeden Tag: Du darfst vom Sofa aus gaffen, je mehr du hinschaust, desto besser bist du informiert." Zusätzlich hat auch die Medienrevolution die Grenze zwischen Zuschauer und Reporter verschwimmen lassen. Der Schaulustige ermächtigt sich per Smartphone selbst, er will und kann Reporter spielen, auch wenn es nur um fünf Minuten am Unfallort geht. Dombrowsky sagt: "Dieser Aufschrei, dass Menschen stehen bleiben und Reporter spielen, ist doch durch und durch bigott."
Warum helfen die Menschen nicht?
In der Sozialpsychologie spricht man vom Bystander- oder Zuschauer-Effekt. Wenn mehrere Zuschauer bei einem Unfall stehen, sinkt die Bereitschaft zu helfen. Auch bei Menschen, die sich für Erste Hilfe aussprechen. Neuere Experimente, zum Beispiel von der Universität Innsbruck, zeigen jedoch, dass Zuschauer sehr wohl bereit sind zu helfen. Vor allem, wenn sie erkennen, dass mehrere Helfer nötig sind. Auch der Katastrophensoziologe Dombrowksy bat Schaulustige vor einigen Jahren bei einem Experiment, den Einsatzkräften zu helfen. Den Menschen wurden Absperrbänder in die Hände gedrückt mit der Bitte: Helfen Sie uns doch. "Da herrschte große Bereitwilligkeit, fast Dankbarkeit, dass man irgendwie nützlich sein kann."
Gibt es Gesetze gegen Schaulustige?
Obwohl der Eindruck besteht, die Gesellschaft wäre machtlos gegen aggressive Gaffer, gibt es jede Menge rechtliche Möglichkeiten. Zum Beispiel gilt für Unfallopfer das Recht am eigenen Bild. Auch wer Rettungskräfte behindert, weil er gaffen will, kann mittlerweile bestraft werden: Im Mai machte der Bundesrat das zu einem Straftatbestand. Und am Amtsgericht Bremervörde wurde vor wenigen Monaten ein Gaffer sogar zu vier Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, er hatte bei einem Verkehrsunfall die Rettungskräfte angegriffen und bedroht, bei dem Unfall waren zwei Menschen ums Leben gekommen. "Das Problem ist natürlich immer, dass das Gaffen auch nachgewiesen werden muss", sagt der Verkehrspsychologe Haiko Ackermann. Der Unterschied zwischen einem Gaffer und einem Menschen, der guckt und sich mehrere Minuten fragt, wie er helfen kann, ist nämlich fließend.