Tschernobyl-Jahrestag:Ein Mann, ein Ort

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Für den Rest der Welt ist die Gegend um Tschernobyl die Todeszone, für Iwan Iwanowitsch ist sie seine Heimat. Er lebt allein in seinem Dorf, nur mit den Hühnern. Zu Besuch bei einem, der einfach nicht fortgehen will.

Von Martin Wittmann, Paryshiv

Iwan Iwanowitsch ist einer der Rückkehrer, die „Samosely“ genannt werden. (Foto: Martin Wittmann)

Iwan Iwanowitsch legt behutsam die Axt beiseite, er setzt sich auf den Block, auf dem er gerade noch Holz gespalten hat, und schnäuzt sich. Er sitzt gebückt, der Rücken tut ihm weh, vor allem, wenn er sich nicht bewegt. "Ich darf meinen Knochen keine Zeit zum Ausruhen geben", sagt er. Sein Gesicht sieht nach einem Leben unter freiem Himmel aus. Er trägt gefütterte Stiefel, eine Wollhose, eine warme Jacke, eine breite Mütze. Es ist kühl an diesem Apriltag in Paryshiv, einem Dorf im Norden der Ukraine, in dem einmal um die tausend Menschen lebten, und in dem es heute gespenstisch ruhig ist, wenn Iwan Iwanowitsch nicht gerade Holz hackt oder sich schnäuzt oder seine Hühner aufscheucht.

Paryshiv liegt innerhalb der 30-Kilometer-Zone um Reaktor Nummer vier des Atomkraftwerks in Tschernobyl. In der Nacht auf 26. April 1986, diesen Freitag vor 33 Jahren, geriet im Werk eine Sicherheitsübung außer Kontrolle, eine Explosion setzte Radioaktivität frei. Die direkte Umgebung des Werks wurde am stärksten kontaminiert, die Behörden brachten in den ersten Tagen 116 000 Menschen fort, zurück blieben Geisterstädte und verlassene Dörfer. Bald war die Gegend in der ganzen Welt als Todeszone berüchtigt. Nur nicht bei jenen, die hier wieder leben wollten.

Iwanowitschs Geschichte: die Überwindung einer Katastrophe

Iwan Iwanowitsch ist einer dieser Rückkehrer, die "Samosely" genannt werden, ukrainisch für Selbstsiedler. Seine Geschichte handelt nicht von einer Katastrophe, sondern von deren Überwindung. Die Katastrophe, das war für Iwanowitsch nicht die Explosion in Tschernobyl, sondern der Verlust seiner Heimat. Die Rückkehr hat er sich hartnäckig erkämpfen müssen. Er erzählt davon auf dem Holzblock sitzend, die Knochen dürfen sich doch ein wenig ausruhen. Es ist keine nachprüfbare Chronik, sondern die Erinnerung eines 83-Jährigen, der hier ganz allein lebt, umgeben von leeren Häusern und überwucherten Grundstücken.

Der mit einer Betonhülle umschlossene Unglücksreaktor von Tschernobyl. (Foto: Sergey Dolzhenko/dpa/dpaweb)

Im Dorf hörten sie damals den Knall, sie sahen auch die Wolke. Keine Sorge, beruhigten ihn die Behörden, Paryshiv ist nicht betroffen. "Aber dann haben sich die Bewohner der Nachbardörfer beschwert: Warum müssen wir gehen und die dürfen bleiben? Also mussten alle gehen." Sechs Tage nach dem Unglück wurden Iwanowitsch und seine Familie abgeholt, sie durften nur das Nötigste einpacken. Ihre Tiere wurden getötet und vergraben. Ein Jahr lang wurden sie von einem Ort an den anderen gebracht. Sie wollten nur wieder heim.

Nach eineinhalb Jahren schließlich zog er mit seiner Frau wieder in das Haus, das er 1958 gebaut hatte und in dem er heute noch wohnt. Sie ignorierten die Warnungen wie die Verbote. Sie blieben einfach, so wie etwa 1500 andere Samosely in der Zone. Aber nichts mehr war wie früher. Die Häuser der Nachbarn standen leer, Strom gab es nur sporadisch, und die Felder wurde nicht mehr bewirtschaftet. Iwanowitsch, der vor dem Unglück in einer Kolchose als Ingenieur gearbeitet und dort, wie er sagt, die Maschinen besser repariert hatte als jeder andere, fing im Atomkraftwerk an. Dessen intakte Reaktoren liefen noch bis ins Jahr 2000. Er arbeitete beim Sicherheitsdienst, die Bezahlung war gut.

Die Lebensmitteltester kommen regelmäßig

Paryshiv liegt in einem Loch, die Wolke ist vorbeigezogen, die Radioaktivität hat es nie bis hierher geschafft, sagt Iwanowitsch. "Es ist ein friedvolles Leben." Wasser holt er aus dem Brunnen in seinem Garten. In seinem Beet pflanzt er Tomaten, Gurken und Kartoffeln an. Im Stall gackern die Hühner.

Zweimal im Jahr kommen die Lebensmitteltester, sie hatten noch nie etwas zu beanstanden.

Seine Frau, Maria, die als Kind Hunger gelitten hatte, die in den 1940er-Jahren den einmarschierenden Nazis entkommen war, ist vor drei Jahren mit 78 gestorben.

Iwanowitsch bekommt zwei Mal im Monat Besuch

Ist er einsam? Nein, sagt Iwanowitsch, einer der beiden Söhne wohnt in Kiew, zwei Autostunden von hier entfernt, der besucht ihn alle zwei Wochen. Seine Enkel dürfen nicht in die immer noch bewachte Zone, er sieht sie nur, wenn er doch mal in Kiew beim Arzt ist. Die Feuerwehrleute, die im Ort arbeiten, schauen manchmal vorbei. Einmal die Woche kommt ein Verkaufswagen, der Lebensmittel anbietet. Wenn er denn kommt.

Und dann sind da noch die Touristengruppen. Alle paar Tage hält hier ein Bus, dann folgen sie Iwanowitsch in sein Backsteinhäuschen, filmen die karge Einrichtung ab, den steinernen Ofen, das Werbeposter mit dem roten BMW an der Wand. Draußen machen sie Bilder von den gruseligen Nachbarhäusern und, wenn sie Glück haben, von Wildschweinen und anderen Tieren, die sich in der Menschenleere wohl fühlen. Sie bringen mit, was Iwanowitsch nicht anbauen kann, Wurst, Limo, Süßigkeiten. Ihre Geigerzähler bleiben still, sie zeigen keinerlei auffällige Strahlung.

Iwan Iwanowitsch ist zur skurrilen Attraktion geworden. Die Touristen verstehen nicht, wie jemand freiwillig nach Tschernobyl zurückkehren kann. Er versteht nicht, wie jemand kampflos seine Heimat verlassen kann.

Es waren die Älteren, die damals nicht neu anfangen wollten, an einem fremden Ort. Viele der Rückkehrer sind mittlerweile gestorben. Etwa 120 Samosely soll es noch geben in der Zone. "Ich merke das Alter", sagt Iwanowitsch. Sein Auto hat er kürzlich verkauft. Er wird hier bleiben.

© SZ vom 26.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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:Schön hier

Wer einen Tag Tschernobyl bucht, zahlt 80 Euro. Dafür gibt es ein bisschen Strahlung und Grusel. Und wer mag, darf die Realität so hindrapieren, dass alles fürs Foto passt.

Text und Fotos von Martin Wittmann

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