Sylt:Zug fällt aus

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Allein auf weiter Flur: Die Nord-Ostsee-Bahn ist die einzige Verbindung für Pendler von Sylt zum Festland. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Eine schmale Eisenbahntrasse ist für viele Pendler die einzige Möglichkeit, nach Sylt zu kommen. Zurzeit erfahren sie auf unangenehme Weise, was das für Folgen haben kann, rund um die Insel braut sich ein Sturm zusammen.

Von Thomas Hahn, Westerland

Irgendwann rutscht Peter Schnittgard das Wort "Katastrophe" raus. Er fängt es sofort wieder ein. Denn eine Katastrophe würde selbst er, der wortmächtige Bürgervorsteher der Gemeinde Westerland und frühere Tourismusdirektor auf Sylt, jene Zubringer-Krise nicht nennen, die Deutschlands populärste Urlaubsinsel dieser Tage unter dem Stichwort "Bahnchaos" in die Schlagzeilen bringt. Andererseits: Kleinreden will er die Situation auch nicht. Sie zeigt, wie verwundbar dieser hübsche Flecken Land in der Nordsee ist.

Sylt spürt in diesen Tagen so intensiv wie schon lange nicht mehr die Nachteile seines Wesens als Insel im Meer. Durch den Hindenburgdamm, die 11,3 Kilometer lange Eisenbahnverbindung Richtung Niebüll, entsteht leicht der Eindruck, Sylt sei im Grunde nur der schicke Fortsatz des nordfriesischen Festlandes und die Nordsee ein Gewässer, über das man jederzeit ungehindert drüberfahren kann. Wenn alles normal läuft, gleiten die Menschen tatsächlich ungestört von Wellen und Gezeiten nach Westerland. Drei Stunden dauert die Fahrt von Hamburg. Wer nicht aus dem Fenster schaut, merkt gar nicht, dass er dabei am Schluss übers Meer setzt.

Auf Facebook hat sich schon eine Pendlergruppe formiert, die Druck macht

Aber seit Mitte November läuft nicht alles normal, und 4500 Pendler bekommen jeden Tag zu spüren, was es bedeutet, wenn eine schmale Eisenbahntrasse die einzige Chance bietet, vom Festland auf die Insel zu kommen. Am 6. Oktober stellte nämlich der Betreiber der Strecke Hamburg-Altona - Westerland, die Nord-Ostsee-Bahn (NOB), nach "einem Vorfall auf Höhe Elmshorn" fest, dass ein Zugwagen einen Fehler an der Kupplung aufwies. Alle 90 Reisezugwagen des Firmen-Fuhrparks mussten nach mehreren Befunden aus Sicherheitsgründen auf den Prüfstand. "Wir haben mit Nachdruck versucht, aus allen Ecken der Republik Ersatzfahrzeuge zu bekommen", sagt Kay Goetze, Sprecher der NOB. Die Deutsche Bahn und private Anbieter halfen aus. Aber 90 Waggons kann man nicht so einfach ersetzen. Die Zahl der möglichen Reservegefährte ist begrenzt, alte Wagen gehören auf Sicherheitsstandards überprüft, ehe sie in den Verkehr kommen. Außerdem haben Lokführer nicht den Führerschein für jede beliebige Lok.

Die Engpässe waren nicht zu überbrücken. Chaos im Pendlerverkehr war die Folge. Züge fielen aus, kamen zu spät, waren zu kurz. Menschen drängten sich in überfüllten Wagen, andere mussten zusehen, wie die vollen Züge einfach an ihnen vorbeifuhren. So schlimm waren die Zustände, dass eine Facebook-Pendlergruppe Druck machte. Und dass sich Kommunalpolitiker Ende vergangener Woche an den Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein (NAH.SH) wandten - und zwar in einem "freundlich, aber klar formulierten Brief", wie Westerlands Bürgermeister Nikolas Häckel sagt. Darin hieß es: "Beschaffen Sie bitte umgehend, nein sofort, mehr Trieb- und Reisezugwagen für den lebensnotwendigen Transfer in unserer Region."

Mittlerweile haben sich die Zustände gebessert. Mehr Waggons sind im Einsatz, der Autozug transportiert neuerdings einen Personenbus. Fernzüge von Hamburg halten jetzt auch in Klanxbüll und sind frei für Pendler mit Nahverkehrstickets. Außerdem gab es am Montag beim Verein Sylter Unternehmer ein Gespräch mit Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Reinhard Meyer, nach dem dieser klarere Informationen für die Fahrgäste anmahnte. Aber ausgestanden ist die Krise noch nicht. Vom 12. Dezember an übernimmt die Deutsche Bahn den Betrieb der Sylter Strecke von der NOB. DB-Regio-Chef Torsten Reh hat vorgewarnt, dass es danach noch bis März 2017 dauern könnte, bis die Waggonprobleme aus der Welt seien.

Auf Sylt macht man sich derweil Gedanken darüber, was diese Wochen der kurzen Züge für die Insel bedeuten. "Das ist mehr als ein Ärgernis", sagt Schnittgard. Die Insel kämpft um neuen bezahlbaren Wohnraum, trotzdem müssen viele, die auf Sylt arbeiten, auf dem Festland leben. Sylt ist angewiesen darauf, dass diese Arbeitnehmer jeden Tag reibungslos übers Meer kommen. Die aktuelle Krise hat den Syltern wieder bewusst gemacht, wie sehr die Bahn und der Hindenburgdamm ihr Leben bestimmen. "Das gesamte Handeln und Wandeln hier ist abhängig vom Funktionieren dieser Strecke", sagt Schnittgard. In der schlimmsten Phase konnten Kinder nicht in den Kindergarten, weil das Personal es nicht rechtzeitig zur Arbeit schaffte. Der Schulbeginn verzögerte sich. Pflegekräfte kamen zu spät zum Schichtdienst. Geschäfte konnten nicht pünktlich öffnen.

"Geschäftsschädigend" nennt Schnittgard das Zugchaos. Für eine Ferieninsel macht es sich tatsächlich nicht gut, wenn der Eindruck entsteht, man käme nur mit Mühe hin. Und Ronald Glauth, Geschäftsführer der Sylter Unternehmer, denkt an den Fachkräftemangel, der durch die jüngsten Nachrichten sicher nicht milder wird. "Das ist ein Imageschaden auch für uns als Arbeitsstandort", sagt er.

Als Tourist kann man das Bahnchaos ganz gut umgehen. Und auch die Pendler haben es mittlerweile besser. Am Dienstagnachmittag steht eine Frau neben dem 16.22-Uhr-Zug, der schon sehr gut gefüllt ist. Sie verteilt Infoblätter, "weil ich so ein Gutmensch bin und das Bahnchaos nicht mehr sehen kann". Die Leute sollen wissen, dass sie auch den Bus nehmen können. Und dass niemand in den Türen stehen bleiben soll, damit in den Waggons mehr Platz ist. Sie schaut sich um. Sie sieht, dass jetzt mehr Züge fahren. "Momentan hat sich die Lage entspannt", sagt sie, "durch den Druck von unten."

© SZ vom 23.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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